Die auffällig ambivalente Stimmung im Land und das rasante Erstarken einer rechtspopulistischen Partei geben immer noch Rätsel auf. Viele der bisher gelieferten Erklärungen halten einer Nachprüfung nicht Stand. Oft genannt wird die „Abstiegsangst der Mittelschicht“ oder die Frustration der „Abgehängten“. Beides beruht auf der Annahme, die soziale Schere sei in auffälliger Weise auseinander gegangen, die soziale Ungleichheit habe also drastisch zugenommen. So beliebt dieses (tendenziell linke) Erklärungsmuster ist, so wenig ist es eindeutig zu belegen. Auf der einen Seite gibt es zahlreiche Belege, dass Arbeitslosigkeit anhaltend abgenommen hat, dass die Einkommen aus nichtselbständiger Arbeit einschließlich der Renten deutlich gewachsen sind und die Konsumbereitschaft spürbar zugenommen hat (was auch auf dem Hintergrund erfolglosen Sparens kein Wunder ist). Andererseits ist es ebenfalls belegt, dass Teilzeit-Arbeitsverhältnisse ebenso wie die Zahl „prekärer Beschäftigungsverhältnisse“ zugenommen haben und insbesondere viele Kinder von Sozialleistungen abhängig sind. Schaut man sich Deutschland auf einem Sozial- und Beschäftigungsatlas an, dann steht Süddeutschland (Hessen, Bayern und Baden-Württemberg) deutlich besser da als das Ballungsgebiet Rhein-Ruhr oder der Berliner Raum. In beiden Regionen ist die Zahl derer, die von staatlichen Leistungen abhängen, besonders hoch. Dies gilt auch für viele Regionen in den ostdeutschen Bundesländern. Wirtschaftlich und sozial ist die Vereinigung Deutschlands noch längst nicht hergestellt, wie sollte es auch in solch kurzer Zeit gelingen können?
Der Flüchtlingsatlas sieht ähnlich aus mit der wenig erstaunlichen Besonderheit, dass Migranten und schon länger zugewanderte Menschen besonders zahlreich in den Ballungsgebieten von Hamburg bis München anzutreffen sind – wiederum mit einem Schwerpunkt in NRW an Rhein und Ruhr. In den ländlichen Regionen der früheren DDR gibt es kaum Flüchtlinge, auch wenig Ausländer aus früherer Zuwanderung im Vergleich zu den westlichen Bundesländern. Ein weiteres Faktum: In Bayern und Baden-Württemberg wird besonders gut verdient, ist der Mittelstand besonders ausgeprägt und der Lebensstandard besonders hoch. Legt man nun über diese Karten eine Karte der Wahlergebnisse der AfD, so gibt es erstaunliche Nicht-Übereinstimmungen mit den vermeintlichen Ursachen. Zwar ist die AfD in Ostdeutschland besonders stark mit Wahlergebnissen von über 20 %, andererseits hat sie auch in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz mit 15 % bzw. knapp 13 % aus dem Stand auffallend gut abgeschnitten. Baden-Württemberg ist nun ganz bestimmt keine Wirtschaftsregion der Abgehängten oder des bedrohten Mittelstands oder besonders vieler prekär Beschäftigter. Das Erklärungsmuster passt also nicht auf die Wirklichkeit, die dennoch von einer erheblichen Verunsicherung gekennzeichnet ist.
Die Angst vor dem Islam und die Furcht vor Islamisierung kommt als nächstes Deutungselement hinzu. Dies ist allerdings noch fragwürdiger als das Vorhergehende, weil es erstens in den östlichen Gebieten mit dem höchsten Anteil der Rechtspopulisten und den stärksten (Gewalt-) Ausbrüchen von Ausländerhass und Islamfeindlichkeit kaum Muslime gibt und weil umgekehrt dort, wo die meisten Muslime wohnen, Ausländerfeindlichkeit sehr viel geringer ist. Bekanntlich wird darauf oft hingewiesen, dass diejenigen am meisten Angst vor dem Islam zu haben scheinen, die bisher so gut wie keinen Kontakt mit Muslimen hatten. Auch das passt nur teilweise, denn im Ruhrgebiet, wo die Zahl muslimischer Mitbürger besonders hoch ist, sind auch die Rechtsradikalen und Neonazis besonders aktiv (Dortmund, Essen), – ob sich das in Wahlergebnissen niederschlagen wird, muss sich noch zeigen. Eines ist allerdings sicher: Schon seit den neunziger Jahren leben bei uns ca. 5 Millionen Muslime (geschätzt, exakte Zahlen gibt es nicht), ohne dass es in der Vergangenheit zu manifestem Islamhass gekommen wäre. Allenfalls Minarette oder der Neubau von Moscheen hat in den davon berührten Stadtteilen für manche Unruhe gesorgt. Selbst wenn die 850 000 Flüchtlinge des Jahres 2015 alles Muslime wären (was allenfalls überwiegend der Fall ist), hätte sich die Zahl der Muslime in Deutschland um gut 15 % erhöht, was zwar viel, aber doch angesichts von 82 Millionen Einwohnern in Deutschland kein eklatanter oder die deutsche Gesellschaft bedrohender Anteil (=7 %) ist.
Kommt als letztes noch die Gefahr drohender terroristischer Anschläge hinzu. Bisher ist Deutschland von einem großen Anschlag zum Glück verschont geblieben. Die meisten Toten forderte ein Amoklauf in München, dessen Täter ein in München geborener Deutscher mit einem iranischen Elternteil war. Wenn auch die Bedrohungslage, was eine islamistische Terrorattacke betrifft, unverändert hoch ist, so sind die Sicherheitsorgane bisher in der Lage gewesen, Schlimmeres und Schlimmstes zu verhüten. Realistisch gesehen muss sich niemand vor einem Terroranschlag fürchten, jedenfalls ist die Gefahr, Opfer eines Verkehrsunfalls zu werden, deutlich größer. Zum Glück sind auch keine auffälligen Verhaltensänderungen bei Großveranstaltungen (Feste, Fußballspiele) festzustellen. Auch hier widersprechen die Fakten dem Gefühl der Verunsicherung.
Vorläufiges Fazit: Es scheint keinen offensichtlichen Grund zu geben dafür, dass in manchen Teilen der Bevölkerung, in manchen Regionen der Republik und in vielen Medien (!) von Ängsten, Bedrohung oder wirtschaftlicher Not die Rede sein müsste. Es stimmt ja nach allen Eckdaten: Wirtschaftlich steht Deutschland selten stark da, und das kommt bei den Beschäftigten mit hohen Lohnabschlüssen auch durchaus an, auch wenn es sozial noch einiges zu verbessern gibt (→ Bildung, → Integration). Was könnten dann die Gründe für die zunehmende Bereitschaft sein, sich rechtpopulistischen, offen fremdenfeindlichen und nazistischem Gedanken so zu öffnen, dass man radikal auftretende Parteien zu wählen bereit ist und lautstark „das System“ ablehnt? Wahlanalysen haben zudem ergeben, dass sich Wähler der AfD aus allen Schichten der Bevölkerung und aus allen bisherigen Parteien rekrutieren. Ich vermute ein ganzes Bündel von Faktoren, die zu der jetzigen Situation der Verunsicherung beigetragen haben und die sich nicht auf eine einzige Ursache, auch nicht auf eine besondere ‚Hauptursache‘, zurückführen lassen. Bevor ich einzelnen Hinweisen nachgehe, sei noch dies vorausgeschickt: In der Alltagswelt der meisten Deutschen ist von Pessimismus, Resignation, Angst oder Wut nicht das geringste zu spüren, wie eigene Erfahrung, ein Blick in die Lokalzeitungen und die Begeisterung für lokale Events zeigen. Es betrifft nur einen Teil der Bevölkerung, aber eine doch recht große, wachsende Minderheit, die nach Ost und West unterschiedlich stark ausfällt. Sie ist lautstark, tendenziell gewaltbereit (→ Brandanschläge), medial um ein vielfaches verstärkt und hat mit den Landtagswahlergebnissen dieses Jahres die Parteienlandschaft erheblich verändert – Grund genug, genauer nach möglichen Ursachen der ‚großen Verunsicherung‘ zu schauen.

⇒ Einen sehr einleuchtenden Hintergrund beschreibt Stefan Berg in der aktuellen Ausgabe des SPIEGEL in „Das Erbe der DDR“:
Im Osten gibt es ein Erschöpfungssyndrom: Viele Menschen mussten ihr Leben nach 1989 dramatisch umstellen. Sie haben die Wiedervereinigung nur kurzzeitig als Befreiung erlebt; viele verhalten sich weniger wie freie Bürger, eher wie Freigelassene, deren gelernte Verhaltensregeln zu den Erfordernissen der Gegenwart nicht passen. Sicherlich ist dies eine Minderheit, aber eine lautstarke und verhaltensauffällige. …
Zur Hinterlassenschaft der DDR gehört das Modell einer geschlossenen Gesellschaft, in der Einheitlichkeit vor Vielfalt ging. Der Umgang mit Menschen anderer Überzeugungen und aus anderen Ländern wurde kaum gelernt. In Ostdeutschland ist die eigene religiöse Tradition weitgehend bedeutungslos.
Berg weist zurecht darauf hin, es fehle im Osten in Teilen der Bevölkerung die Fähigkeit, sich gegen politische und ökonomische Prozesse zu wehren, die in der alten Bundesrepublik erlernt worden sind. Sitzblockade, Schülerdemo und Streik zählten im Westen seit Generationen zum Werkzeugkasten der Demokratie. Im Osten war es dagegen die Erfahrung eines Aufbruchs, der sich für viele Lebensläufe bald als kaum zu bewältigendes Desaster entpuppte. Da fehlte tatsächlich ein Stück „Integration“ in die freiheitliche Gesellschaft. Dass in der DDR zudem Nazi-Gedankengut totgeschwiegen wurde und sich nun wieder lebendig zur Stelle meldet, ist ein weiterer Gesichtspunkt. Aber es ist nur einer unter vielen.
⇒ Denn der Rechtspopulismus feiert seine Erfolge ja keineswegs nur in Regionen und Gesellschaften des früheren Ostblocks. Die stärksten rechtspopulistischen Parteien und Strömungen gibt es in den entwickelten und wirtschaftlich erfolgreichen westlichen Ländern wie Schweden, Dänemark, Niederlande, Österreich, Frankreich. Letzteres hatte seinen FN schon lange bevor dort der wirtschaftliche Niedergang begann. Schließlich ist auch die Mehrheit für einen Brexit, also den Austritt Großbritanniens aus der EU, unter anderem auf eine erfolgreiche Kampagne tendenziell rechtspopulistischer Parteien und fremdenfeindlicher Strömungen mit Nigel Farage als Gallionsfigur zurückzuführen. Andererseits – Länder mit wirklich tiefgreifenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen wie Portugal, Spanien und Griechenland habe zwar eher radikale Parteien begünstigt, von denen man aber keine mit den Rechtspopulisten der reichen Nordländer vergleichen könnte. Der Syriza-Chef Alexis Tsipras ist für eine erstaunlich realistische und moderate Regierungspolitik verantwortlich. Der Protest gegen die offene Gesellschaft und die Politik der massiven Abschottung gegenüber allem Fremden, insbesondere dem Islam, kommt viel mehr von dem ‚lupenreinen‘ Populisten Viktor Orbán in Ungarn. Es ist ein mehr als disparates Bild. Aber vielleicht steckt ja doch ein Muster dahinter, das allerdings nicht auf die Visegrad-Staaten und ihre Gesellschaften passt: Das Muster der Übersättigung der erfolgreichsten Wohlstandsländer und deren unausgesprochene Angst, andere könnten ihnen den Wohlstand neiden. Ich wage zu vermuten, der Rechtspopulismus ist unter anderem ein Kind der freien Wohlstandsgesellschaften, weil es Wohlstandsgesellschaften sind. Diese Vermutung wäre eigens soziologisch und politisch genauer aufzuklären und mit Daten zu unterfüttern. Wenn man vor nichts anderem, auch vor keiner wirtschaftlichen Not mehr Angst haben muss, machen sich andere zum Teil irrationale Ängste breit vor dem „Abstieg“, dem Terror, dem Islam, den (praktisch nicht vorhandenen) Burkas.
⇒ Vielleicht ist es auch eine Ermüdungserscheinung der offenen Gesellschaften, sich dem dauernden demokratischen Willensbildungsprozessen, gesellschaftlichen Diskursen und Diskussionen, dem Zwang zum produktiven Kompromiss, einer schrittweisen Politik der langsamen Veränderungen, also der Politik als der Kunst des „Bohrens dicker Bretter“ auszusetzen. Die komplexe Welt der Globalisierung fordert ihren Tribut. Es klingt platt, aber manches erscheint oft wie der trotzige Bock eines verzogenen Teenagers, dem es schlicht zu gut geht. Dies Bild taugt allenfalls zur Metapher, ersetzt keine Analyse und kann allenfalls sozialpsychologisch in eine bestimmte Richtung weisen. Zumindest würde dadurch plausibel, warum besonders Teile der hoch entwickelten Gesellschaften von diesen rechtspopulistischen Avancen angezogen werden. In dies Bild passt auch die immer häufiger beklagte erhöhte Bereitschaft zur Gewalttätigkeit, zur Rücksichtslosigkeit und zu verbalen Attacken (Hassbotschaften) besonders im öffentlichen Raum der digitalen Netzwerke. Wenn es hier immer wieder „Ausraster“ gibt, zunehmende Gewalt und Gesetzlosigkeit (zumindest Respektlosigkeit gegenüber dem Gesetz und seinen Vertretern), muss einen das mit Recht besorgt machen. Erstaunlicherweise ist für eine derartige Angst kein breites Echo zu verspüren. – vor Einbrüchen dagegen schon. Da geht es ja auch um „Meins“. Wenn Demokratie die Kunst des Kompromisses ist, dann verlieren Teile unserer Gesellschaft und der Gesellschaften in der westlichen Welt die Fähigkeit dazu, komplizierte Zusammenhänge verstehen zu wollen und sich beim Bilden einer eigenen Meinung von Sachargumenten und nachvollziehbaren Fakten leiten zu lassen, sich also um ein Verständnis und eine verantwortbare Meinung zu bemühen. Die Geduld und der Wille zu diesem bisweilen immens anstrengenden demokratischen Prozessen ist tatsächlich oft nicht mehr vorhanden. Vereinfachende Schwarz-Weiß-Malerei ist gefragt, einfache Lösungen, ein kontrafaktisches Vorspiegeln dessen, was die Vorurteile und Instinkte sich wünschen. Da feiern dann Hass und Wut Weihnachten. Viel anders ist auch der bisherige Erfolg eines Donald Trump kaum zu verstehen. Das Kontrafaktische ist hier wie dort zum Maß der Politik derer geworden, die sich anschicken, die „Massen“ oder „das Volk“ in die Gefilde illusorischer Hoffnungen und Wünsche zu führen.
⇒ Wenn einiges des hier Skizzierten auch nur annäherungsweise stimmen sollte, stehen uns schwere Zeiten bevor. Sache und Argument zählen dann nur noch wenig, wenn Ängste, Wünsche, Vorurteile, Hass und Rachegelüste sich noch mehr Raum verschaffen. Die mediale Verstärkung tut ein Übriges, um die Stimmen der Vernunft und der Besonnenheit zu übertönen. Dass es Mängel im Transport politischer Entscheidungsprozesse, Arroganz der Mächtigen, Mängel in der Willensbildung und Partizipation gibt, dass es also Defizite im sozialen und kulturellen Aufbau postmoderner Gesellschaften gibt, ist unbestritten. Ärger und Wut über „die da oben“ (gemeint sind demokratisch gewählte Politiker) münden heute nicht mehr in konstruktive Kritik derer, die es besser machen wollen, sondern in destruktive Emotionalität, lautstarke Beschimpfung und unkontrollierte Verhaltensweisen, die einen kaum erwarteten zivilisatorischen Rückfall darstellen. Geschichte wiederholt sich niemals, aber Parallelen darf man schon finden, wenn sie einem auffallen. Manches, einiges erinnert an die Zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Unbewältigte blutige Konflikte gibt es inzwischen in unmittelbarer Nachbarschaft Europas genug. Es ist mehr als nur zu hoffen, dass all die grauenhaften Kriege in Syrien, Irak, Jemen usw. nicht zum Zunder werden, für die wenige Funken reichen, um neue Weltbrände auszulösen. Und ein weiterer etwas düsterer Gedanke ist nicht von der Hand zu weisen. Schon lange gilt: Kommen Reichtum, Lebenschancen und Gerechtigkeit nicht endlich in den Süden (Afrika), dann kommt der Süden, dann kommt Afrika zu uns und fordert seinen Anteil ein. Dann wäre die jetzige Flüchtlingsbewegung nur ein sanftes Lüftchen gewesen. Dann helfen auch keine Populisten mehr – ja natürlich, die schon gar nicht.
UPDATE 06.10.2016:
„Die Ablehnung der Flüchtenden ist die Ablehnung des Flüchtigen: Eine hilflose Rebellion gegen den Verlust der Welt, wie wir sie kannten, und gegen die uns aufgezwungene Veränderung.“ FAS-Artikel „Die Welt zu Gast bei Fremden“ von Stephan Lessenich, Soziologe an der Universität München
Eine Antwort auf „Verunsicherung im Wohlstand“
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