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Kontrollverlust – ein Unwort

Der Begriff kam schon einmal mit der Flüchtlingswelle 2015 in Mode. Er wurde zum politischen Gegenbegriff gegen die Öffnung der Grenzen mit dem Ziel, eine humanitäre Katastrophe auf der Balkanroute der Flüchtlinge zu beenden. Das vorübergehende Aussetzen der Schengen-Regelung wurde zum Symbol eines „gesetzlosen Zustands“ an den südlichen Grenzen Deutschlands. Dabei wäre auch beinahe die bundespolitische Ordnung außer Kraft gesetzt worden, wenn die bayerische Polizei sich Aufgaben des Bundes und der Bundespolizei angemaßt hätte. „Kontrollverlust“ wurde zum Stigma einer Politik, die angesichts unabsehbaren Flüchtlingselends von Griechenland über den Balkan bis Österreich und Deutschland hin eine vorübergehende Aussetzung des im Grunde bereits zusammen gebrochenen Schengen-Regimes an den Außengrenzen der EU in Kauf nahm und eine Zeit lang offene Binnengrenzen beibehielt mit einem ‚unkontrollierten‘ Zustrom von Flüchtlingen und Asylsuchenden. „Kontrollverlust“ wurde zum negativen Gegenbegriff gegen die „Willkommenskultur“, wie sie für die Situation an den Bahnhöfen insbesondere Münchens positiv kennzeichnend wurde.

Bundesarchiv – (c) Wikimedia Commons

Dies war bereits die Übertragung eines Begriffs aus der Netzdiskussion in den allgemein politischen Bereich. Ursprünglich wollte „Kontrollverlust“ die demokratisch transparente ‚Allmacht‘ (Disruption) des globalen Internets gegen hierarchische Kontrolle markieren. Er hatte daher einen kritisch-emanzipativen Impuls. Aber in der Flüchtlingssituation im Herbst 2015 erhielt er eine ausschließlich negative Bedeutung: der drohende ‚Kontrollverlust‘ der staatlichen Organe gegenüber den ‚anstürmenden Massen‘ der Flüchtlinge. In dieser Bedeutungsrichtung erfährt der Begriff derzeit eine Aktualisierung: „Kontrollverlust“ soll ein weitgehendes Versagen des Staates brandmarken angesichts des Terrors, wie er im Anschlag von Berlin Wirklichkeit geworden ist. Es ist die salonfähige und darum von Politikern ebenso wie von bürgerlichen Medien wiederholte Version des rechtspopulistischen Kampfbegriffs vom „Staatsversagen“, von der „Lügenpresse“ oder der Korruptheit der „Systemparteien“. „Kontrollverlust“ ist sozusagen die weichgespülte Variante. Sie suggeriert immerhin noch deutlich genug, dass Bürgerinnen und Bürger eben wegen des behaupteten „Kontrollverlustes“ des Staates und seiner Organe nun nicht mehr sicher seien, schutzlos den Flüchtlingen und Islamisten und Terroristen ausgeliefert. „Kontrollverlust“ ist darum nicht weniger als ein hochpolitisierter Begriff rechtspopulistischer bzw. rechtsradikaler Propaganda. Da wird sehr schnell der Biedermann zum Brandstifter.

Verräterisch ist das Gegenbild, das er als Ideal voraussetzt: Ein Staat, der alles unter Kontrolle hat, der Sicherheit und Ordnung zum Hauptzweck erklärt und nunmehr als „starker Staat“ Handlungsfähigkeit beweisen will. Es ist ganz sicher nicht der liberale Rechtsstaat, den wir bisher in der Bundesrepublik hatten und noch haben. Wer in der heutigen Situation „Kontrollverlust“ beklagt, kann die reale Lage kaum meinen, in der Deutschland bisher mit Glück und Vorsichtsmaßnahmen von größeren Attacken verschont geblieben war. Berlin ist das Ende der Glückssträhne, Terrorismus gibt es auch mit schlimmsten Auswirkungen auf deutschem Boden. Selbst wenn im Vorfeld des Anschlags von Berlin einiges schief gelaufen ist (und danach sieht es ja aus), dann liegt es völlig fern, hier von einem Versagen des Staates zu sprechen. Wer hier und jetzt lauthals den „Kontrollverlust“ konstatiert, will einen anderen Staat: den Obrigkeitsstaat, dessen Staatssicherheit („Stasi“) oberstes Gebot ist. Freiheit und Offenheit bleiben dabei auf der Strecke. Offene Grenzen gelten dann als Tore zum Bösen, die streng kontrolliert werden müssen. Der kontrollierende Staat, der alles im Griff hat, ist nicht mehr der freiheitliche Rechtsstaat, sondern der obrigkeitliche Unrechtstaat, weil dann Offenheit und Recht tendenziell der Sicherheit und der Macht geopfert werden. Schon jetzt hört man die Rufe auch aus der „Mitte“ der Politik, dass mit dem ganzen Luxus des Datenschutzes, der Trennung von Polizei und Militär und der Wiederherstellung des Schengenraums Schluss sein müsse. Kontrolle meint nationale Kontrolle und ist die Absage an europäische, und das heißt friedenserhaltende Lösungen.

Der harmlos klingende Ruf „Kontrollverlust“ lenkt die politische Diskussion in eine andere Richtung, in die Richtung der Rechtspopulisten und Neo-Nationalen, denen Offenheit, Liberalität und Interkulturalität immer schon ein Dorn im hermetischen Weltbild ist. Nach solchen Terrorerfahrungen wie der von Berlin bekommen diejenigen Oberwasser, die unter dem Deckmantel neutraler Kritik („Kontrollverlust“) im Grunde eine andere Republik wollen: Die Kontrolle durch einen Staat, der keine Fehler mehr machen kann – und deswegen immer Recht hat. Erdogan hat das längst verstanden.

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