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Wendejahr

Wenn man bisher vom Wendejahr spricht, meint man 1989, das Jahr mit dem Fall des ‚Eisernen Vorhangs‘ und dem Mauerfall, für manche das „Ende der Geschichte“ (Fukuyama). Das Jahr 2016 erhielt schnell den Titel „annus horribilis“, zuerst mit der Brexit – Entscheidung in Großbritannien, dann mit dem Militärputsch in der Türkei und schließlich mit der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA. Da verblassen sogar die Finanzkrise 2008/9, die Griechenland- und Eurokrise, die Annexion der Krim, der Bürgerkrieg in der Ukraine, der Syrienkrieg, die Ausbreitung des ‚Islamischen Staats‘, Terroranschläge vor allem in Frankreich, Cyber-Attacken usw. Die kleine Aufzählung zeigt, dass es auch vor 2016 keineswegs ruhig und sicher war in der Welt um uns herum. Dennoch scheint manchem Beobachter das Jahr 2016 noch einmal besonders aufzufallen, – vielleicht muss man dieses noch junge Jahr 2017 hinzunehmen, wenn sich die Folgen aus 2016 deutlicher zeigen werden.

Was macht den Unterschied aus, den Brexit und Trump anders wahrzunehmen als die vielen anderen erschreckenden Ereignisse bis hin zum weihnachtlichen Terroranschlag in Berlin? Vielleicht – vorläufig – dies, dass all diese Einzelereignisse zwar schrecklich und beunruhigend sind, in einer Welt voller Gewalt aber leider immer wieder vorkommen, dass dagegen der bevorstehende Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union und die Wahl eines Mannes wie Donald Trump zum Präsidenten der Supermacht USA die Grundlagen der politischen und gesellschaftlichen Ordnungen zu erschüttern drohen, wie wir sie seit Jahrzehnten kennen. Es könnte sich schließlich bei näherem Hinsehen zeigen, dass diese schrecklichen Einzelereignisse und die politischen Zäsuren des Jahres 2016 ‚irgendwie‘ zusammenhängen.

Dass der ‚Brexit‘ für Europa eine in seinen Auswirkungen noch kaum abzuschätzende Zäsur darstellt, dürfte jetzt schon klar sein. Austritt aus der EU gabs noch nicht, bisher nur Erweiterungen und ständiges Wachstum unter dem Titel „Friedens- und Wohlstandsprojekt“. Es tritt auch nicht irgendwer aus, sondern einer der größten und wirtschaftlich bedeutendsten Mitgliedsstaaten der EU, wenn auch erst beigetreten 1972, übrigens nach mehreren Anläufen, die unter de Gaulle an dem Veto Frankreichs scheiterten. Da die Zustimmung der Mehrheit der Bevölkerung zum Brexit nicht wegen irgendwelcher Petitessen, sondern aus Gründen der Ablehnung von Grundprinzipien der EU erfolgte, nämlich wegen bzw. gegen Freizügigkeit und „Fremdbestimmung“, ist dieses Wählervotum, wie immer man sein Zustandekommen und seine Gründe bewerten mag, ein Paukenschlag gewesen, der die Grundgedanken des „Projektes Europa“ infrage stellt. Seit dem Brexit wird zu Recht gefragt, was denn noch an dem „Projekt Europa“ dran sei, wofür es stehe, wohin es führen solle. Die Verunsicherung in allen Ländern der EU, insbesondere bei den Regierungen Deutschlands und Frankreichs, ist gewaltig – und ist absolut begründet. Wie sich die EU weiterhin entwickeln (oder abwickeln?) wird, hängt auch von den weiteren Umständen ab, die sich aus dem möglichen Erfolg der Rechtspopulisten, vor allem in Frankreich, und auch aus der weiteren Strategie der USA ergeben werden.

Collage 2016
Collage 2016

Noch mehr als beim Thema Brexit geht es bei der Präsidentschaft Trumps einerseits um die realen politischen und wirtschaftlichen Taten und Auswirkungen, noch mehr aber um die Infragestellung von bisher leitenden Wertvorstellungen. Kennzeichnend dafür ist die Art und Weise, wie Trump seinen Wahlkampf geführt hat, wie er jetzt auftritt, sich äußert, handelt und sich inszeniert. Dazu kann man so viel lesen, dass ich mir hier weitere Erläuterungen spare. Wie immer man Trump im einzelnen bewertet, sogar wenn man auch Positives durch die Trumpschen Erschütterungen des laufenden Politikbetriebes erkennen will, sicher dürfte sein, dass sich Grundlegendes in den politischen und ökonomischen Beziehungen der Staaten der Welt, insbesondere der bisher verbündeten und befreundeten, gegenüber den USA und ebenso untereinander verändert, wenn die USA ihr Verhalten innen- und außenpolitisch grundlegend ändern. Ob und wie weit das geschieht, wird sich erst noch zeigen, aber es ist durchaus mit rücksichtslosen Veränderungen zu rechnen, auf die man so oder so reagieren muss. Infragegestellt sind nicht weniger als grundlegende Wertvorstellungen und Übereinstimmungen der Interessen, die die ‚westliche Welt‘ bisher zusammen gehalten und geeinigt hat: Liberalität, Rechtsstaatlichkeit, gesellschaftliche Offenheit, freier Austausch von Waren, Menschen und Meinungen. Wo diese Übereinstimmungen nicht mehr gelten, wo Uminterpretationen von Begriffen und Wertvorstellungen, Diffamierung von Wissenschaft und Vernunft, Neudefinition von Interessen und Propagierung eines (wörtlich) rücksichtslosen Nationalismus (und Merkantilismus) um sich greifen und politische Realität werden, da gerät in der Tat so ziemlich alles ins Schwimmen, was das gesellschaftliche Leben bei uns und im internationalen Austausch bisher bestimmt und politisch-kulturell getragen hat. Das Wort vom „Untergang der westlichen Welt“ hätte dann ein Stück weit Berechtigung. Ob es so kommt und ob das so stimmt, wird sich zeigen. Es hängt natürlich auch entscheidend davon ab, wie „wir“ (?) in Europa und speziell in Deutschland darauf reagieren. Bisher ist die ruhige Gelassenheit der Kanzlerin sicher nicht die schlechteste Wahl politischer Reaktion, aber da muss mehr und anderes kommen, was das Zusammenleben, das politische Agieren und ökonomische Verhalten in Europa stabilisiert und neu ausrichtet – wenn denn die Chance dazu genutzt wird.

Das hat entscheidend mit dem dritten genannten Punkt zu tun: Wie nämlich die vielen ’schrecklichen Einzelereignisse‘ mit den politischen Paukenschlägen von 2016 zusammenhängen. Auch hierzu gibt es bereits seit längerem viel zu lesen, darum nur knappe Bemerkungen. „Der Westen“, sprich der westliche Kapitalismus samt seinem Demokratie- und offenen Gesellschaftsmodell hat zwar in dem, was man Globalisierung nennt, einen weltweiten Siegeszug angetreten, dem sich nicht einmal China gänzlich entziehen konnte, hat gewiss auch zum Wohlstand in Teilen der Welt und in großen Teilen der westlichen Länder und einiger „Schwellenländer“ beigetragen, aber er hat eines ganz gewiss nicht geschafft: zu einer ausgeglicheneren Verteilung der erwirtschafteten Reichtümer und zu einer ’sozialen Globalisierung‘ zugunsten sowohl der Ärmsten als auch der nicht so Fitten (= Zurückbleibenden, Verlierer) in den eigenen Bevölkerungen beizutragen. Mit Gewalt (Stellvertreterkriege) ausgetragene Interessenkonflikte um Ressourcen (zum Beispiel um arabisches Öl, um ‚Blutdiamanten‘, um Rohstoffe insgesamt, um Weltmeere), fehlende Aussichten und Entwicklungschancen für die stark wachsende junge Generation vor allem in den Ländern des südlichen Afrikas und des afrikanisch-arabischen ‚Halbmonds‘ (Muslime), ein die Starken einseitig begünstigender Freihandel, Kollaboration mit Diktatoren, wo immer es westlichen Regierungen opportun erschien, die Weigerung, Widerstände in der eigenen Bevölkerung zu bemerken und ernst zu nehmen und statt dessen einen recht exklusiven Diskurs über kulturelle Vielfalt (als Beispiel) zu pflegen, – dies sind nur einige Ursachen, die als Gründe für die heutige Crash-Situation berücksichtigt werden müssen. Hinzu kommt der Expansionsdrang anderer Mächte, die sich nicht von der Supermacht USA in die Schranken weisen und nach ihrer Pfeife tanzen wollen. Das „America first“ galt ja eigentlich schon lange, jetzt wird es nur öffentlich und offiziell. Islamistischer Terrorismus aus Syrien etc. und den europäischen „Banlieus“ hängt tatsächlich mit dem Erstarken von Rechtspopulisten, Nationalisten und Macho-Politikern zusammen, beispielhaft in einem Präsidenten, der sich nicht wie erwartet „benehmen“ kann und einfach ignoriert, was bisher Fakt ist. Unzufriedenheit und Ängste in der eigenen Bevölkerung hängen natürlich auch damit zusammen, dass die soziale Schere immer weiter auseinandergeht – so wird es jedenfalls in breiten Kreisen erlebt, wie immer die so oder anders interpretierten Zahlen auch lauten mögen. Dass wenige Menschen auf dieser Welt für sich genommen mehr besitzen als der gesamte Rest und dass die Ressourcen dieser Welt geplündert werden für den Wohlstand der ‚reichen‘ 10 Prozent, das will offenbar nicht mehr in die Köpfe gehen. Und das zu Recht.

Eines scheint sicher: Mit dem ‚Wendejahr‘ 2016 im laufenden Wahljahr 2017 fertig zu werden, dafür reichen keine einfachen Rechtfertigungen, schnelle Lösungen und schönen Worte über Europa und den Euro. Wir werden handeln müssen, schneller und gravierender als uns lieb ist. Sonst wird mit uns gehandelt werden, wie uns noch weniger lieb ist.

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