Demokratie ist nach Karl Poppers berühmtem Diktum deswegen die relativ beste Staatsform, weil man in ihr eine Regierung ohne Blutvergießen los werden kann. Das ist ein oft genanntes Kennzeichen einer Demokratie: Herrschaft auf Zeit, verliehen durch freie und geheime Wahlen. Dabei gibt es nun einige unterschiedliche Spielarten etwa im Wahlrecht, je nachdem es ein Mehrheits- oder ein Verhältniswahlrecht gibt. Auch die Funktion von Wahlen kann unterschiedlich sein, je nachdem ausschließlich Abgeordnete für ein Repräsentativorgan, das Parlament, gewählt werden oder ob Abstimmungen der Wahlberechtigten auch zu Gesetzen, Petitionen und Plebisziten möglich sind. Das wäre dann der Unterschied zwischen einer parlamentarischen und einer direkten Demokratie. In der verfassungsrechtlichen Wirklichkeit der Staaten gibt es dazu eine Vielzahl von Mischformen, sowohl was das Wahlrecht als auch was die Ausprägung der Demokratie angeht. In aller Regel ist eine parlamentarische Mehrheit erforderlich, wenn es um die Bildung der Regierung, der Exekutive geht. Ihr steht dann die Opposition als ‚Regierung in Reserve‘ gegenüber, die also in gleicher oder ähnlicher Zusammensetzung nach den nächsten Wahlen, vorausgesetzt sie bekommt die Mehrheit, ihrerseits die Regierung bilden und zeitlich befristet Macht ausüben darf. Wie auch immer die Verfassungswirklichkeit (wobei die jeweilige Verfassung eines Staates nicht immer als geschriebener Text vorliegen muss, siehe Großbritannien) im Einzelnen ausgestaltet ist, immer kommt es zugleich darauf an, selbst eine zeitlich befristete Machtverleihung begrenzen und kontrollieren zu können. Dem dienen die sehr unterschiedlich verteilten „checks and balances“, die besonders das angelsächsische Verfassungsrecht prägen. Aber auch bei uns in Deutschland ist die Verfassungswirklichkeit der parlamentarischen Demokratie eine recht fein austarierte Balance unterschiedlich legitimierter Akteure mit differenzierten Funktionen. Zunächst ist unser Wahlrecht eine Mischform aus Mehrheits- und Verhältniswahlrecht (Wahlkreisvertretung durch Mehrheit, tatsächliche Anzahl der Mandate durch die Stimmenverhältnisse, die sich auf die Wahllisten der Parteien auswirken.) Das Prinzip „winner takes it all“ gibt es daher bei uns im Wahlrecht nicht. Außerdem ist dem auf diese Weise gewählten und verhältnismäßig zusammengesetzten Parlament als zweite Kammer die Länderkammer, der Bundesrat, zur Seite gestellt, der die Interessen der Länder vertritt und dementsprechend in das Gesetzgebungsverfahren eingebunden ist. Schließlich erarbeitet das Parlament, der Bundestag, nicht nur durch seine Mehrheitsfraktionen die Gesetzgebung, sondern wesentlich durch seine Fachausschüsse, die wiederum nach dem Verhältnis der Sitze zusammengesetzt sind. Dadurch ist gewährleistet, dass auch diejenigen Mitglieder der Fraktionen und der Parlamentarier, die nicht zur gerade regierenden Mehrheit gehören, am Gesetzgebungsverfahren beteiligt sind und ihre Auffassungen konstruktiv oder eben oppositionell einbringen und verdeutlichen können.
In den europäischen Staaten gibt es sehr unterschiedlich gewichtete Modelle einer parlamentarischen Demokratie, aber das Verhältniswahlrecht und ein Zwei-Kammern-System sind sehr verbreitet, weil besonders diese Konstruktionen einen Ausgleich der Kräfte und eine Begrenzung der Macht gewährleisten. Da wo es ein reines Mehrheitswahlrecht gibt wie in Großbritannien, sind andere Funktionen und Wege geschaffen, um die checks and balances aufrecht zu erhalten. Dasselbe wäre für die Schweiz zu sagen, die auf der einen Seite sogar in der Regierung ein „Konkordanzsystem“ verwirklicht, also alle Fraktionen nach der Verhältnismäßigkeit ihrer Stimmen an der Regierung beteiligt (Proporz) und damit keine wirkliche Opposition kennt, auf der anderen Seite wie kaum ein anderes europäisches Land durch ‚direkte Demokratie‘ organisiert ist, das heißt Volksentscheide als legitime Wege der Gesetzgebung zulässt und ermöglicht und somit die Macht der Regierung und des Parlaments als Legislative begrenzt.
Durch diese Übersicht, die keineswegs vollständig sein soll und nur auf einige Merkmale demokratischer Verfassungsordnungen vor allem in Europa Bezug nimmt, wird aber deutlich, dass auch eine durch rechtmäßige freie Wahlen konstituierte Regierung, die durch den Wahlzyklus zeitlich befristet ist, noch weiterer Kontrollen bedarf, um Machtmissbrauch zu verhindern. Und das ist das zweite wesentliche Merkmal einer Demokratie: Es ist keine unumschränkte Herrschaft der Mehrheit, keine ‚Demokratur‘. Das setzt wiederum eine bestimmte Weise voraus, wie die jeweilige Minderheit bzw. Opposition behandelt wird, und zwar rechtlich, politisch und praktisch-ethisch. Genau da liegt heute einiges im Argen. In manchen Ländern mit demokratischer Verfassung wird die Mehrheit unumschränkt verstanden, die ihre Herrschaft ohne Rücksicht auf die unterlegene Minderheit durchsetzen kann. In Ungarn und Polen sind darüber hinaus Tendenzen zum Autoritarismus zu erkennen, weil die Mehrheitsherrschaft die Bedingungen des Machterwerbs und der Machtausübung in ihrem eigenen Interesse verändert (Medien, Jurisdiktion inkl. Verfassungsgericht), so dass die Minderheit geringere oder keine Chancen hat, in der Gesetzgebung Korrekturen anzubringen oder selber einmal zur Mehrheit zu werden. Man könnte auch Großbritannien und die USA hinzuzählen, wo die jeweilige Mehrheit durch ein starkes Mehrheitswahlrecht ohnehin in der Regierung gestärkt ist. Wenn dann, wie gerade in den USA zu sehen war, bestimmte auf Partei übergreifenden Kompromiss hin ausgelegte Wahlrechtsnormen (Richterwahl) so geändert werden, dass die einfache Mehrheit ausreicht, dann wird auch hier der Zwang zum Kompromiss aufgelöst. Mehrheitsherrschaft ist dann kompromisslose und rücksichtslose Herrschaft; die Minderheit wird nicht beachtet und kommt nicht mehr zum Zuge. Dies vielfach zu beobachtende Phänomen hängt mit einer starken Lagerbildung zusammen, welche Kompromisslosigkeit der regierenden Mehrheit begünstigt, die wiederum ihrerseits die Lagerbildung verstärkt. So entsteht ein wechselseitiges Aufschaukeln der politischen Lager und der kompromisslosen Mehrheitsherrschaft: Winner takes ist all. Das „Gerrymandering“ [Wikipedia: Wahlkreisschiebung, ein Begriff der Politikwissenschaft, ist die absichtliche, dem Stimmgewinn dienende Manipulation der Grenzen von Wahlkreisen bei einem Mehrheitswahlsystem] ist in den USA die Zuspitzung dieser lagermäßig polarisierten Segregation der Gesellschaft, wenn Wahlkreise nach Parteipräferenzen zugeschnitten werden und Teile der Bevölkerung dort de facto umziehen müssen, wenn sie in der ‚falschen‘ Nachbarschaft wohnen. Die Begründung lautet immer wieder: Mehrheit ist Mehrheit. Das stimmt formal, ist aber die Pervertierung eines wesentlichen demokratischen Prinzips. Das innere Prinzip der Demokratie beruht auf der Idee des Kompromisses und der Kompromissfähigkeit der politischen Akteure. Wenn, wie in Großbritannien bei der Volksabstimmung zum Brexit geschehen, eine weitreichende politische Entscheidung, die mindestens ebensolche Auswirkungen hat wie eine Verfassungsänderung, durch eine knappe Mehrheitsentscheidung unwiderruflich festgelegt wird, ist zwar formal dem Demokratieprinzip Genüge getan. In Wirklichkeit aber wird das Ideal des Kompromisses und der Gemeinsamkeit der Demokraten missachtet, eben auch zusammen mit der unterlegenen Minderheit nach Lösungen zu suchen.
Parlamentarische Demokratie ist der Wille und die Fähigkeit zum Kompromiss – und damit eben auch das „Bohren dicker Bretter“ (Max Weber). Das gilt heute im Zeichen wieder erstarkter ideologischer Lagerbildung umso mehr, als die gesellschaftlichen Verhältnisse und die soziale und politische Wirklichkeit noch vielschichtiger, unübersichtlicher und verwoben in mannigfaltigen Wechselwirkungen (das nennt man Komplexität) geworden ist als in Jahrzehnten zuvor. Statt Vereinfachungen und Schwarz-weiß-Malerei ist ein besonderes Bemühen um Verständigung, Berücksichtigung der Interessen anderer, eben um Kompromisse nötig. Das schließt natürlich ein, dass auch abgestimmt werden muss, und zwar mit Mehrheit, aber auch die Minderheit sollte sich irgendwie in dem Mehrheitsbeschluss noch wiederfinden können oder zumindest die Chance haben, diesen Beschluss irgendwann einmal zu ihren Gunsten ändern zu können. Auch Gesetzgebung ist zeitlich bestimmt und zeitlich begrenzt. Abgesehen von der zurecht geltenden „Ewigkeitsgarantie“ der Grundrechtsartikel unserer Verfassung ist alles veränderbar. Der Wille zum Kompromiss aber schließt möglichst alle ein, auch diejenigen politischen Gegner, deren Auffassungen einem stracks zuwider sind – solange sie sich auf dem Boden der Verfassung befinden. Ein Ausgrenzen von Parteien (zum Beispiel der AfD oder ehedem der PDS/Linke) widerspricht der Bereitschaft zum Gespräch und zum Kompromiss. Auch die Positionen einer Minderheit können in Teilen richtig sein (auch die Mehrheit hat ja ebenfalls nur in Teilen recht), und wenn sie einem bestimmten Meinungsbild in der Bevölkerung entsprechen, müssen sie auch gehört und berücksichtigt werden. Keine politische Richtung kann „die Wahrheit“ oder das alleinige Recht für sich in Anspruch nehmen. *) Hier kann die Schweiz als gutes Beispiel dienen, wie eine rechtspopulistische Partei, die SVP, selbstverständlich in das Proporzsystem der Bundesregierung eingebunden ist und nun Teil hat am Suchen und Finden von Kompromissen. Das führt zu mancher wünschenswerten ‚Entzauberung‘, wie sich inzwischen bei einigen Volksinitiativen und Referenden gezeigt hat.
Es ist also keine Schwäche der Demokratie, wenn man gelegentlich die Parlamente als „Quasselbuden“ verunglimpft, sondern gerade ihre Stärke. Es muss miteinander geredet, auch gerungen werden um den besten Weg für politische Ziele, für Absichten und Ansichten, – kurz für das Gemeinwohl, auch wenn dieses sich immer wieder in unterschiedliche Interessen und Meinungen ausdifferenziert. Am Ende eines solchen Meinungs- und Willensbildungsprozesses steht dann der Kompromiss, sei es innerhalb einer regierenden Koalition, sei es im Blick auf die Gesamtheit der im Parlament vertretenen Kräfte. Ausgangspunkt auch für den Akt des Beschließens ist der ethische Grundsatz, dass auch der andere Recht haben kann und die Minderheit niemals entrechtet werden darf. Dies hat aus meiner Sicht Konsequenzen in zweierlei Hinsicht: Im Hinblick auf Sperrklauseln, also die Fünf-Prozent-Hürde für den Einzug ins Parlament, und hinsichtlich der Beurteilung von „großen Koalitionen“.
Es gibt heute keine stichhaltigen Gründe mehr für Sperrklauseln, sie gehören abgeschafft, und zwar ersatzlos wie in den Niederlanden. Die Angst vor einer Zersplitterung des Parlaments ist unbegründet, zumal bei der Größe des Deutschen Bundestages. Warum sollen nicht alle politischen Meinungen, die es zu einem Abgeordnetenmandat schaffen, ohne Sperrklausel, rein nach der für ein Mandat erforderlichen Anzahl von erhaltenen Stimmen, im Parlament vertreten sein? Dann wäre es auch vorbei mit dem Hinweis, kleine Parteien zu wählen, bedeute nur, seine Stimmen zu verschenken, zu verschwenden. Es könnte dann viel eher die Vielfalt der Meinungen in der Bevölkerung im Parlament Widerhall finden. Zugleich sollten die Regeln zur Bildung von Fraktionen es auch wenigen Abgeordneten ermöglichen, sich zum Fraktionsstatus zusammenzufinden – warum nicht auch zu einer Ein-Mann/Frau-Fraktion? Alle bisherigen Argumente dagegen schützen nur die großen Parteien, begünstigen also die Meinungs-Mehrheiten. Dass die Regierungsbildung dann schwieriger würde, ist dann kein Gegenargument mehr, wenn Mehrheiten zum Regieren, also Koalitionen zwischen mehreren Fraktionen, ohnehin zum Normalfall gehören. Nur die ‚gesetzten‘ Mehrheiten und Vorrechte der Groß-Parteien würden dann ein Ende finden, und das wäre auch gut so.
Damit zusammen hängt ein weiteres Motiv dieser Überlegungen, nämlich die neue Wertschätzung großer Koalitionen. „Große Koalition“ hat inzwischen einen negativen Beigeschmack bekommen, weil sich eine einzelne Partei, die SPD, in einer Zweier-Koalition der beiden größten Fraktionen irgendwie nicht ausreichend gewürdigt fühlt, eben nur „Steigbügelhalter“ der Kanzlerin zu sein. Nun ist aber diese amtierende Koalition eher eine Art Dreier-Koalition, und das ist letztlich eine gute Entwicklung. Ich würde mir noch größere Koalitionen wünschen, mit mehreren Fraktionen, die zusammen eine deutliche Mehrheit des Parlaments zusammenführen. Wenn es stimmt, dass es das Wesen der parlamentarischen Demokratie ist, Kompromisse zu finden, und es von allen Parteien erwartet werden kann, kompromissfähig und darum auch koalitionsfähig zu sein, dann sind deutliche Regierungsmehrheiten kein Nachteil oder Erschwernis, sondern das Ernstnehmen einer breiten Meinungsvielfalt gerade auch zum Zwecke des Regierens. Die Zeiten, wo eine einzelne Partei „durchregieren“ konnte, sind bis auf eine Ausnahme (Bayern) vorbei, und das ist auch gut so. Auch bei einer neuen Wertschätzung breiter Regierungskoalitionen mit entsprechenden Mehrheiten müssen die verbleibenden Minderheiten in ihren parlamentarischen Rechten gestärkt werden (Anfragen, Rederecht, Untersuchungsausschüsse). Auf diese Weise wäre der Bundestag viel eher ein lebendiges Repräsentativ- und Legislativorgan für eine hochdifferenzierte freiheitliche Gesellschaft.
So gesehen ist der „Brexit“ in verschiedener Hinsicht ein Super-GAU: Er ist schlecht für Großbritannien, er ist schlecht für die Europäische Union, er ist schlecht für die liberale Demokratie in heutigen pluralistischen Gesellschaften. Dass 52% der aktiven Stimmbürger über 48% Unterlegene irreversibel dominieren, kann man kaum als eine gute demokratische Entscheidung bezeichnen. Hier zeigt sich eher die Tyrannei der Mehrheit, die möglichen Kompromissen bewusst ausweicht. Der Satz von Premierministerin May „Brexit means Brexit“ ist der vielleicht dümmste und folgenreichste Satz in der Geschichte moderner Demokratien. Die unterlegene Minderheit, zumal eine beinahe ebenso große, wird nicht berücksichtigt. Ein solcher Umgang mit der eigenen Mehrheit ist rücksichtslos. Kein Wunder, wenn sich dann Kaczynski in Polen ermuntert sieht darin, seine Mehrheit über die Grenze demokratischer Verfasstheit hinaus auszudehnen, um die Minderheit, die als illegitim angesehene Opposition, an die Wand zu drücken. Damit wird dem Autoritarismus Vorschub geleistet, wie er sich auch in anderen, vor allem osteuropäischen EU-Staaten verstärkt zeigt. Das Recht des Kompromisses als demokratisches Ideal ist dann schon lange verloren gegangen.
*) Zur ‚post-faktischen‘ Lagerbildung und Intoleranz als ein Zeichen für „zu viele Wahrheiten“ siehe den lesenswerten Artikel von Kenan Malik, NOT POST-TRUTH AS TOO MANY ‘TRUTHS’
2 Antworten auf „Kompromiss als Wesen der Demokratie“
Sehr guter Basisartikel, der als grundlage für Diskussionen über Demokratie dienen sollte. Danke auch af den Hinweis zum Kenan malik Artikel
Danke für das positive Feedback!