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Zeit – Tendenzen

Es ist viel in Bewegung geraten in letzter Zeit. Bisweilen hat man den Eindruck, die Welt sei unruhiger geworden als vor 20 Jahren. Vielleicht täuscht man sich auch, weil manche Tendenzen erst nach und nach deutlicher werden und anderes schon wieder verblasst ist. Werfen wir zunächst einen Blick auf die Faktoren, die den ‚Weltlauf‘ besonders beeinflussen, natürlich aus europäischer / deutscher Sicht. Die Reihenfolge ist keine Wertungs-Skala.

Die Digitalisierung schreitet weiter voran und durchdringt immer mehr Lebensbereiche. Ein Ende ist nicht abzusehen, denn wir befinden uns immer noch ganz am Anfang einer Umwälzung, für die bisher Begriffe stehen wie Vernetzung, Internet, Algorithmen, Robotik, Selbstlernende Systeme, KI (was immer im Einzelnen unter „künstlicher Intelligenz“ definiert und verstanden wird), Industrie 4.0, Smart Phone, Smart Home, Smart Production. Dass dieser Prozess Auswirkungen auf alle Lebensbereiche, insbesondere die Wirtschaft, die Produktion, die Arbeitsverhältnisse und das Konsumverhalten hat, ist jetzt schon deutlich. Wohin es führen wird, ist noch nicht abzusehen.

Globalisierung ist ein schillernder Begriff, der alles mögliche bezeichnen kann. Es sind ja nicht nur die Warenströme und die modulare Produktion am günstigsten Standort gemeint, sondern immer deutlicher auch die Menschenströme: Migration ist ein immer stärkerer Bestandteil dessen, was als globalisierte Wirtschafts- und Handelsverhältnisse begonnen hat. Kommen bessere Lebensverhältnisse nicht zu den Menschen, dann kommen die Menschen in die Wohlstandsregionen. Urbanisierung ist ein weiterer Teilaspekt, wenn ländliche Subsistenzwirtschaft immer mehr von kapitalintensiver Agrotechnik verdrängt wird. Damit verbunden ist oftmals der Verlust kultureller und sozialer Bindungen. Die Auswirkungen sind enorm und werden von einer Vielzahl von Kultur- und Traditionsbrüchen begleitet, – Ende offen.

Toronto
Toronto (C) R.G.

Entgegen den Verheißungen haben die globalen Märkte keineswegs ‚automatisch‘ zu mehr Wohlstand in allen Teilen der Welt geführt. Die Globalisierung hat nicht nur Gewinner hervorgebracht, sondern ebenso Verlierer, die man bisher nur aus den Augen verloren hatte. Sie melden sich unter anderem als „Wirtschaftsflüchtlinge“ in den westlichen Metropolen und an Europas Grenzen zurück. Die Ungleichheit hat insofern zugenommen, als zwar einerseits die absolute Armut gesunken ist, andererseits der ‚absolute Reichtum‘ ins Unermessliche gestiegen ist. Selbst hierzulande, wo ein umfassendes Sozial- und Transfersystem die wirtschaftliche Ungleichheit mildert, wird dieses Auseinanderdriften zumindest von relativer Armut und gewaltigem Reichtum als „Gerechtigkeitslücke“ thematisiert. Nimmt gleichzeitig der Druck und die Unsicherheit bei den Arbeitsverhältnissen zu, entsteht in den Bevölkerungen ein explosives Potential, das sich Ventile sucht in Protest, Populismus und Radikalisierung. Auch hier ist kein Ende der Entwicklung abzusehen.

Mit der wachsenden Unsicherheit und erlebten Ungleichheit (was immer Statistiken und Gini-Koeffizienten anders sagen mögen) wächst die Chance für autoritäre Entwicklungen, von einigen als ‚Lösungen‘ begrüßt. Der Autoritarismus hat eine zunehmende Bedeutung erlangt, die Bindungskraft parlamentarischer, rechtsstaatlicher Demokratien scheint abzunehmen. Dass dadurch zugleich Gegenbewegungen liberaler und demokratischer Kräfte auf den Plan gerufen werden, macht das Lagebild schwer einschätzbar. Dass politische Strukturen in Staat und Gesellschaft auf wirtschaftliche und soziale Umwälzungen reagieren, dürfte allerdings wenig überraschend sein, – ob die Anpassungen immer wünschenswert und planbar sind, steht auf einem anderen Blatt. Ob dann für Regierungen konkret mehr möglich ist als relativ kurzfristige Reaktionen auf fortwährende ‚Krisen‘, ist eine offene Frage. Die gelegentlich vermissten „Visionen“ bleiben bisher den radikalen Aussteigern (wie den „Reichsbürgern“) vorbehalten.

In all diese Problemanzeigen hinein spielen dann, zumeist verstärkend, die globalen Veränderungen hinsichtlich des Klimas, der natürlichen Ressourcen und der Biodiversität eine wachsende Rolle. Ein Hauptopfer der sich exponentiell ausbreitenden Kapitalisierung, Industrialisierung und Digitalisierung ist die Natur. Sie verändert sich reaktiv und ‚planlos‘ durch alles, was Milliarden von Menschen tun oder unterlassen. Die Auswirkungen und Folgen zeigen sich erst mit Verzögerung, so dass der Wandel in den natürlichen Lebensgrundlagen umso gravierender ist. Klimaerwärmung ist ja nur ein Faktor von vielen. Pestizid-Belastung und das Eindringen von Nanopartikeln aus Plastik in die Nahrungskette sind vielleicht noch schwerwiegendere, aber weniger beachtete Faktoren der Umweltbeeinträchtigung. Auch der medizinische Fortschritt ist bedroht, wenn Antibiotika ihre Wirksamkeit verlieren: Besiegte Geißeln der Menschheit (z.B. Tuberkulose, Tripper, Pest) drohen von neuem. Solche Entwicklungen werden unter dem Stichwort Pandemien erst allmählich in der Öffentlichkeit wahrgenommen – mit unabsehbaren Folgen.

Was bedeutet dies alles für Freiheit und Selbstbestimmung, für moralische Werte, für Kultur im weitesten Sinne? Wir wissen es nicht, auch nicht, ob die Zunahme von Rücksichtslosigkeit, Rechtlosigkeit und Gewalt nur gefühlt ist oder einen realen Bezug hat. Unsicherheiten in den wirtschaftlichen Lebensverhältnissen spiegeln sich sehr rasch in sozialen und kulturellen Veränderungen. Denn sicher ist in jedem Falle: Es hängt alles mit allem zusammen. Diese Komplexität kann einerseits Gefahren und Risiken verstärken, andererseits aber auch als „Trägheitsdämpfer“ dienen. Vieles von dem, was heute aufgeregt durch die Medien gejagt wird, ist der Erwähnung kaum wert – und auch ebenso schnell wieder vergessen. In mancher Hinsicht lässt tatsächlich die menschliche Trägheit, positiv formuliert: die menschliche Sehnsucht nach Beständigkeit hoffen. Auch wenn es sie so, wie gewünscht, nicht gibt, kann sie Handeln und Verhalten als subjektiven Hintergrund prägen. Es wäre nicht das Schlechteste. Schlecht ist es nur, wenn die Augen verschlossen werden und die Informationen ignoriert werden gegenüber dem, was sich unaufhaltsam verändert. Manches kann eben doch beeinflusst und in seinem Lauf verändert werden – zum Glück. Man muss es nur mit anderen zusammen versuchen.