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Die Macht des Neo – Kapitalismus

Der in vielen Ländern der Welt zunehmende Autoritarismus wird oft auf Verwerfungen, Ungleichheiten und Machtverschiebungen zurückgeführt, die durch die Globalisierung und Digitalisierung verursacht wurden. Das ist eine plausible Sichtweise, aber zeigt nicht alles und ist allenfalls als eine vorläufige Erklärung zu verstehen. Es gib weitere Aspekte, die einige Entwicklungen in der gegenwärtigen Weltlage zu verstehen helfen. Einer davon ist das, was ich die Transformation des Neo-Kapitalismus nennen möchte.

Der hier skizzierte Neo-Kapitalismus ist sozusagen die antithetische Weiterentwicklung des Neo-Liberalismus. Wurde dieser bisher zumal von den linksorientierten Meinungen für so ziemlich alle Übel der Welt verantwortlich gemacht, von Hunger und Krieg in Afrika bis zur Eurokrise, so ist mit der politischen Wende in den USA eine merkwürdige Leere in diesem Diskurs eingetreten: Mit Trump und seinem Gefolge hat gerade ein erklärter Gegner des neoliberalen Westküsten – Mainstreams die Macht gewonnen. Mit „America first“ wird anscheinend ein Nationalismus und Protektionismus zur Geltung gebracht, den man bisher viel eher in Russland oder China diagnostiziert und angeklagt hat. Und doch ist beim näheren Hinsehen die amerikanische und in mancher Hinsicht auch die britische Brexit – Wende kein Gegenentwurf zum Neoliberalismus alter Schule, sondern vielmehr eine weitere Transformation des Kapitalismus auf einer neuen Stufe, darum Neo-Kapitalismus. Er ist die Reaktion des massenhaft, im Mikrosekundentakt des Hochfrequenzhandels exponentiell anwachsenden Finanzkapitals auf die Finanzkrise 2008 / 2009 und die daraus resultierende Schulden- und Zinskrise. Die weltweiten Finanzströme suchen sich eine neue Bahn der ‚Verwertung‘ – und vor allem eine Absicherung gegen neue Verluste, und damit gegen den Verlust der Macht derer, die diese Ströme kontrollieren und von dem immensen Kapital mit einem unvorstellbar hohen Einkommen bzw. Vermögen profitieren. Ein ganz banaler Reflex dieser Entwicklung sind die exorbitant gestiegenen Transfersummen für Fußballer.

Stock exchange

Das Kapital ist ein scheues Reh, sagt man, und das stimmt insofern, als es die Öffentlichkeit ebenso scheut wie alle unguten News und realwirtschaftlichen Negativereignisse. Wenn ich hier die marxistische Terminologie des Kapitals und seiner Verwertung aufgreife, dann deswegen, um eine anonymisierbare Größe benennen zu können, an der Menschen und Machthaber partizipieren, von ihr profitieren, sie dirigieren können, die sich aber durch ihre Eigendynamik einer puren Personalisierung („die“ Hedgefonds-Manager, Wallstreet-Haie, Banker, Zocker) entzieht. Das Kapital „will“ nur eines: sich vermehren, und sei es disruptiv. In unserer Zeit hebt die algorithmisch gesteuerte Kapitalanlage (das globale Finanzhandelssystem verläuft komplett digital und zum Großenteil automatisiert) die Verwertung des Kapitals auf eine neue Ebene. Daraus folgt so etwas wie der nächste Akt der „ursprünglichen Akkumulation“ des Kapitals: Die neuen „Raubritter“ sind die Verwalter und Händler desjenigen neuen Kapitals, das durch die algorithmisch optimierten und im Sekundentakt Gewinne erzielenden Handelsprozesse (globaler instantaner Computerhandel) in ungeheurem Ausmaß geschaffen wird. Es ist ‚Maschinengeld‘; es will verwertet und vermehrt werden, indem es angelegt, reinvestiert und durch fortlaufend optimierte Strategien der Gewinnmaximierung algorithmisch verselbständigt wird. Draghi & Co leisten dieser grenzenlosen Geldvermehrung ihrerseits Vorschub. Wer diese Prozesse aber wirklich steuert und nutzt und an den Gewinnen partizipiert, ist der eigentliche Entrepreneur des Cyber-Kapitalismus, ein ‚Raubritter‘ neuer Art.

Raubritter klingt böse und unzeitgemäß. Es ist nur ein drastisches Bild für die Praxis der Bonuszahlungen, der kurzfristigen Investments und Re-Investments, der Realisierung von Börsengewinnen mit allen Tricks und legalen (und illegalen) Mitteln. Das Recht hinkt dem Code ohnehin hinterher – zumal welches Recht? Das nationale kann hier kaum mehr greifen. Viele Unternehmer haben die neue Stufe des Neokapitalismus schnell begriffen. Jeff Bezos begann mit einem realwirtschaftlichen Standbein, einem Online-Bücherversand und dann dem weltweiten Warenhaus. Lange war man erstaunt, dass Amazon nur Verluste produzierte zugunsten aggressiver Expansion. Inzwischen ist Amazon ein digitaler Monopolist, der die wichtigsten Claims besetzt hat und weitere besetzt und das meiste Geld mit Cloud-Services verdient, die dem Cyber-Kapitalismus den technischen Rahmen und die „Schmiere“ bereitstellen. Bezos kann nun Zeitungen aufkaufen, sich an Fonds beteiligen und dem weiteren Wachstum des Kapitals zuschauen. Er profitiert von jeder Drehung des Börsenrades. Einmal maschinell, will heißen algorithmisch eingespeist, versorgt und vermehrt sich das „neue“ Kapital von selbst. Seine Wachstumsraten sind weitgehend von der wirtschaftlichen und sozialen Realität entkoppelt. Das ist der Grund für die oft statistisch nivellierte, aber im Detail nachweisbare Ungleichheit der Einkommensentwicklung: Während die Realeinkommen der überwältigenden Mehrheit der arbeitenden Bevölkerungen stagnieren oder geringfügig wachsen, steigen die Einkommen aus Kapital und Finanzwirtschaft extrem. Die New York Times hat eine entsprechende Grafik veröffentlicht und nennt die Disruption beim Namen: „Our Broken Economy, in One Simple Chart“.

NYT chart
New York Times Chart

Politisch relevant wird diese Entwicklung *) dann, wenn man die Reaktion und das Verhalten vieler Machthaber unter den Bedingungen des Neo- oder ‚Cyber‘-Kapitalismus betrachtet. Das dominierende Ziel ist, die erlangte Macht einzusetzen, um sich Pfründe zu sichern (klassisch), das heißt heute: Macht einzusetzen, um an das wachsende Kapital heranzukommen und seine Steigerungsspirale für sich zu nutzen – und es nicht nur den Drogenbaronen, Menschenhändlern usw. zu überlassen. Dabei sind zwei nicht immer klar unterscheidbare Strategien erkennbar: Machtausübung direkt zur eigenen finanziellen Nutznießung bzw. zugunsten der Familie bzw. des Clans, oder Kapital zu nutzen, um eigene Macht abzusichern, also um Getreue sich bereichern zu lassen bzw. drohen zu können, ihnen im Falle von „Verrat“ die Pfründe zu entziehen (Putins Oligarchen). Was ist daran neu? Nichts. Nur eines: Das massenhaft verfügbare Kapital, die unvorstellbaren Geldsummen üben einen magischen Zwang aus, sich der eigenen Macht zu bedienen, um an der Wachstumsspirale des Cyber-Kapitals beteiligt zu sein. Alle derzeitigen Hinwendungen zu autoritären oder dikatatorischen Regierungsformen haben darin ihren leicht erkennbaren Grund. Da stehen dann Putin, Xi Ping, Kim Jong-un, Duterte, Maduro, Temer, Zuma, Erdogan und endlos viele andere in einer Reihe und auf einer Stufe. Unterschiede bestehen in der Skrupellosigkeit und dem Ausmaß der Bereicherung sowie in der tatsächlichen Machtfülle, die von der Größe und den Ressourcen der jeweils beherrschten und expropriierten Länder / Bevölkerungen und der möglichen Destruktion demokratischer Strukturen abhängt. Neokapitalismus in der Gestalt des globalen algorithmisierten Finanzkapitalismus ist Kapitalismus pur wie lange nicht mehr: mit Gier, Raub, Skrupellosigkeit, Scheinheiligkeit und Menschenverachtung. Mord kann durchaus zu den eingesetzten Mitteln gehören, Kriege sowieso. Das gewaltige Ausmaß des lockenden Reichtums verursacht, so scheint mir, ein ebensolches Ausmaß der Bereicherung: Geldfieber, Cyber-Goldrush.

Die sozial und wirtschaftlich ausgleichenden politischen Systeme der meisten europäischen Länder verhindern hier dank starker demokratischer und zum Teil auch gewerkschaftlicher, auf jeden Fall bürgerschaftlicher Strukturen das Schlimmste. Weder Martin Schulz noch Angela Merkel wäre hier „Geldfieber“ zu unterstellen, eher im Gegenteil. Etwas anders sieht es im Brexit-gewendeten Großbritannien aus, sofern hier von einigen (May) ein neuer Traum von „global Britain“ geträumt wird, verstanden als neue imperiale Machtperspektive jenseits der Londoner City, aber natürlich auf deren finanzieller Basis. Das wird wohl ein Traum bleiben. Nicht geträumt, sondern aufgeräumt wird dagegen im Trump-Amerika. Das erklärte Ziel dieses Präsidenten ist es, das durch Umweltvorschriften und internationale Verträge gebundene US-Kapital wieder zu entfesseln und ihm alle Freiheiten zur Eroberung und Vermehrung zurück zu geben. Das schließt die massive Umverteilung von Unten nach Oben (Steuergesetze, Obamacre, was immer daraus wird) ebenso ein wie die Destruktion eines fürsorglichen Staates oder überhaupt eines für Belange der Allgemeinheit zuständigen Staates (Bannons Projekt). Hier wird die neokapitalistische Destruktion direkt in destruktives politisches Handeln umgemünzt. Zugleich wird dadurch der drohende Machtverlust der Nachfolger der Ölbarone rückgängig gemacht: Der Südstaaten-Paternalismus ist im Kern sowohl rassistisch als auch urkapitalistisch: Rauben von Land und Meer und Bodenschätzen, koste es was es wolle, um endlich wieder an die eigentlichen Fleischtöpfe, nämlich an die Ströme des Finanzkapitals zu kommen. Es muss die alten republikanischen Eliten (Bush, Cheney & Co), denen sich Trump unter anderem verdankt, tief getroffen haben, sich von Newcomern wie Tim Cook und Jeff Bezos oder gar von einem jungen Schnösel wie Zuckerberg finanziell und „kapitalisiert“ locker in den Schatten gestellt zu sehen. Ob diese Strategie allerdings aufgeht oder noch ganz andere Skrupellosigkeiten und „alternative Fakten“ verlangt, wird sich zeigen.

Die Entwicklung ist nicht ganz neu, aber viel zu wenig im Zusammenhang betrachtet und diskutiert. Das Erste, was notwendig ist, ist Aufklärung und analytische Klarheit über Fakten, Daten und Verläufe. Viele scheinbar zusammenhangslose Entwicklungen der letzten Jahre und Monate haben ihren gemeinsamen Ursprung in diesen gewaltigen Machtverschiebungen, die das exorbitant angewachsene Kapital herbeigeführt hat. Die gefühlte Ungleichheit hat darin ihren wahren, faktischen Kern. Die ‚fake news‘ haben darin ihren ideologisch vernebelnden Grund. Die autoritären Regime erhalten dadurch ihre Triebkraft. Das Disruptive der oft zitierten digitalen Revolution hat darin seine real-kapitalistische Basis. Man muss kein Marxist sein, um hier Zusammenhänge zu erkennen und Motive und Antriebe zu finden für vieles, was sonst zufällig oder unerklärlich bleibt. Man kann aber von der Kritik des Kapitals lernen. Die „postmoderne“ Egalisierung ist allerdings eine Verschleierung, die zerrissen werden muss.

Reinhart Gruhn


*) Was hier nur skizziert wird, wäre natürlich noch ausführlicher zu belegen. Als Einstieg: „Die Ungleichheit beruht auf Raub“ Spiegel-Gespräch mit Wirtschaftsnobelpreisträger Sir Angus Deaton, oder „Kapitalismus und Ungleichheit. Die neuen Verwerfungen“  Herausgeber: Heinz Bude, Philipp Staab, bpb 2017 [zurück]