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Wo solls denn langgehen?

Über die Zukunftsfähigkeit der Demokratie

Dass die deutsche Sicht auf die nationale wie internationale Politik oft erschreckend provinziell ist, obwohl man es besser weiß oder wissen könnte, das kann man exemplarisch an drei Beiträgen in einer kürzlich erschienenen FAZ (20.11.2017) nachlesen. Diese Beiträge haben nichts mit dem aktuellen Scheitern der „Jamaika“ – Sondierungsgespräche zu tun, dies verschärft allenfalls die betrübliche Diagnose. Sie sind auch nicht aufeinander bezogen,

In einem „long read“ („Die SPD muss wieder zum Anwalt der Arbeiter werden“) erklärt der Grundsatzreferent der SPD-Landtagsfraktion in Rheinland-Pfalz, Nils Heisterhagen, seine zugespitzte These für einen realistischen Linksruck der Sozialdemokraten: „Die SPD muss sich steuer- und sozialpolitisch klar nach links orientieren, gleichzeitig in der Migrations- und Integrationspolitik aber einen ebenso klaren „realistischen“ Kurs einschlagen. Wenn sie das nicht schafft, ist ihr nicht mehr zu helfen. Sie wird das gleiche Schicksal erleiden wie ihre niederländischen, spanischen, französischen, griechischen Schwesterparteien: Sie wird in der Bedeutungslosigkeit verschwinden.“

Nikolas Busse erklärt, warum die Vereinigen Staaten von Amerika als Weltmacht abdanken und welche Folgen das für Europa hat. „Das ist die wahre Herausforderung der Trump-Ära: Die Europäer müssen sich auf eine postatlantische Welt vorbereiten. Sie werden auf mittlere Sicht immer häufiger allein für ihre Interessen eintreten müssen. Der französische Präsident Macron hat treffend formuliert, worum es in einer multipolaren Welt geht: Europa wird seine Souveränität nur wahren können, wenn es enger zusammenarbeitet.“

Hendrik Kafsack, Brüssel-Korrespondent, kommentiert unter dem Titel „Soziale Säulen-Eilige“ die soeben in Göteborg verabschiedete Erklärung „Europäische Säule sozialer Rechte“, inwiefern damit die Befürworter einer Transferunion Druck machen können und dass es schwer wird, diese Entwicklung aufzuhalten. “Wenn es um die Angleichung von Sozialstandards geht, ist aus Sicht von Macron, Juncker, aber auch der deutschen Gewerkschaften stets die Anhebung auf westeuropäisches Niveau gemeint. Das schützt die Westeuropäer vor der Konkurrenz aus den neuen Mitgliedstaaten. … Die Osteuropäer werden in ihrem Aufholprozess ausgebremst. Um eine Spaltung zu vermeiden, muss die EU deshalb mit weiteren Transferleistungen den Verlust ihrer Wettbewerbsfähigkeit kompensieren.“

Dass dies alles keine Petitessen, keine Nebensächlichkeiten sind, verdeutlicht Heisterhagen (dessen These zur SPD man im übrigen nicht teilen muss) , wenn er auf die Folgen der Globalisierung verweist: „Wir haben uns damit arrangiert, dass dies bereits die beste aller Welten ist und es eigentlich nicht viel besser geht. Das ist aber noch nicht das „goldene Zeitalter“. Es ist noch nicht alles gut geworden. Wenn es noch Menschen auf dieser Welt gibt, die hungern, die keinen Zugang zu Bildung haben, dann ist die Welt noch nicht gut. Wenn Arbeiter auf den Baustellen der WM-Stadien in Qatar fast wie Lohnsklaven behandelt werden, wenn Armeen von Lohnsklaven dem afrikanischen Kontinent seine Rohstoffe entziehen, wenn Wanderarbeiter aus Osteuropa in Akkordarbeit in deutschen Schlachthöfen unter schlechten Werkvertragsverhältnissen Schweinehälften zerlegen und ihre geringe Freizeit nur erschöpft im Bett zubringen können, dann ist die Welt noch nicht gut. Wenn es Menschen gibt, die in dem reichen Deutschland zur Tafel gehen müssen, Flaschen in Parks sammeln müssen, die nach 40 Jahren Arbeit nur Grundsicherung als Rente bekommen, dann ist die Welt noch nicht gut.“ Sie soll aber gut werden, und so formuliert er mit fast religiösem Pathos: „War es nicht einmal das Ziel der Menschheit, die Welt von Armut, von Ausbeutung, von Gewalt, von Kriminalität und von Terror zu befreien? Wollten wir nicht eigentlich in einem Paradies auf Erden leben? War das nicht einmal der geschichtsphilosophische Auftrag, den uns die Aufklärung hinterlassen hat und für dessen Erfüllung seit Karl Marx und der Arbeiterbewegung die politische Linke gekämpft hat?“ Ohne Zweifel ist das hiermit wieder anklingende marxistische Lied von der „Expropriation der Expropriateure“ eine Welt-Perspektive, aber ist die pathetische Deklaration der Welterlösung wirklich mehr als ein verzweifelter Ruf aus der ‘Mottenkiste’ und also in Wirklichkeit gerade kein politisches Rezept, womöglich für ein Wiederauferstehen (um es religiös zu nennen) der darniederliegenden Sozialdemokratie? „Sozialdemokraten sind eigentlich keine reinen Vernunftmenschen, sie sind zumeist und zuallererst Herzmenschen.“ Herz statt Verstand, Emotionalität statt Politik als Kunst des Möglichen – das klingt nicht gerade zukunftsweisend. Aber es ist ja richtig, auf die kaum erträgliche Differenz zu verweisen, die zwischen dem unvorstellbaren Reichtum und der Macht der Wenigen und der globalisierten Verarmung und Ohnmacht der Vielen besteht, eine Differenz, die sozialpolitisch und gesellschaftspolitisch zur spannungsgeladenen Dissonanz wird, – vielleicht schon geworden ist.

Da wirkt der Beitrag von Hendrik Kafsack nur auf den ersten Blick sperrig, wenn er angesichts der verabschiedeten europäischen Sozialstandards fragt: „Was spricht dagegen, dass die EU ihr soziales Profil schärft, um die Bürger, die sich in Scharen von der EU abgewandt haben, wieder für sich einzunehmen?“ Klingt gut, aber der Einwand, hierbei handele es sich letztlich um einen Schutz der Arbeitnehmer mit den höchsten Standards vor billiger Konkurrenz aus den zum Beispiel weit weniger entwickelten osteuropäischen EU-Ländern, ist ja durchaus berechtigt und ernstzunehmen, – und er betrifft weit darüber hinaus alle diejenigen Länder, die mit niedrigen Löhnen und Lebenshaltungskosten in den globalen Wettbewerb hineingehen, um sich ihren Anteil am Wohlstandskuchen zu erkämpfen.

Schließlich weist Busse nüchtern darauf hin, dass mit dem Wandel der US-amerikanischen Außenpolitik schon seit Präsident Obama und erst recht unter Präsident Trump Europa zunehmend auf sich selbst gestellt ist – Kanzlerin Merkel hat dies schon des öfteren betont. Mit Busses Worten: “An der Grundtendenz ändert das nichts: Amerika fehlt es am politischen Willen und an der militärischen Kraft, um diese Krisenregion [Nahost] noch einmal zu stabilisieren. In Afrika und Lateinamerika erhebt Washington diesen Anspruch schon gar nicht mehr. Hier ist China heute mindestens genauso präsent, vor allem in rohstoffreichen Ländern.“ ‘Game changing’ kann man diese weltpolitische Entwicklung nennen. Die ökonomischen und politischen Machtverhältnisse in der Welt ändern sich gravierend, es sind geradezu tektonische Verschiebungen, durch die Europa an den Rand gedrängt wird und Amerika nur noch für sich selber kämpft. Von den Auswirkungen der Digitalisierung und dem bevorstehenden Vordringen von KI in fast alle Bereiche des Lebens ist hierbei noch gar nicht die Rede gewesen, – dieser Hauptaspekt fehlt in diesen Artikeln noch.

Old Kameiros
Old Kameiros, Rhode

Auf diesem Hintergrund stellt sich die Frage „Wo solls denn langgehen?“ einigermaßen drängend. Sie setzt (keineswegs selbstverständlich) voraus, dass es noch eine Wahl gibt – und es nicht nur präfaktisch als unausweichlich heraufziehende Realität beschrieben werden kann. Im Umkreis dieser Frage sollen einige Punkte genannt werden, die analytisch und nicht normativ zu verstehen sind. Genau in diese Richtung zielt die Frage der FAZ an Prof. Dr. Thomas Jäger (Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität Köln) und seine Antwort.

FAZ.NET 21.11.2017: Wenn man die Wahlergebnisse westlicher Demokratien der letzten Jahre betrachtet und nun auch in Deutschland ein Scheitern der Verhandlungen feststellen muss, stellt das die Handlungsfähigkeit von Demokratien generell in Frage?

Das ist die ganz zentrale Frage, die hinter der ganzen Tagespolitik steht. Die Frage ist, wie sich Demokratie unter den veränderten Bedingungen einer digitalen Gesellschaft stabilisieren lässt. Und wie sie gegenüber autokratischen Regierungen wettbewerbsfähig bleiben will. In den neunziger Jahren schien es, als würden sich alle Staaten irgendwann demokratisieren, als hätten alle anderen Systeme abgewirtschaftet. Seitdem erleben wir aber eine Renaissance autokratischer Systeme, die zusätzlich auch noch wettbewerbsfähig sind. Sie können scheinbar eine Reihe von Problemen lösen, die in demokratischen Staaten nicht gelöst werden können. Das ist die Frage unseres Jahrhunderts: Sind Demokratien unter diesen veränderten Bedingungen der Digitalisierung in der Lage, stabile Regierungen hervorzubringen, die wettbewerbsfähig sind. In den Vereinigten Staaten haben wir das beste Beispiel dafür, dass eine Gesellschaft in Echo-Kammern zerfällt, in denen jeder in seiner eigenen Wahrheit lebt. Wir sehen dort auch, dass aus dieser Entwicklung resultiert, dass die Spaltung der Gesellschaft zunimmt und eine Regierung ein halbes Land, teilweise sogar gegen die andere Hälfte, regiert. Das Problem ist, dass über die Individualisierung von Kommunikation auf einmal völlig neue Propaganda- und Kommunikationswege entstehen. Wie sich Demokratie im Hinblick auf diese Entwicklungen aufstellen wird, ist die zentrale Frage. Im Moment gibt es vor allem Probleme damit.

[http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/professor-jaeger-erklaert-die-internationalen-konsequenzen-des-scheiterns-von-jamaika-15301568.html?printPagedArticle=true#pageIndex_0]

Zwei Punkte daraus: Demokratien westlichen Zuschnitts sind in die Krise geraten dadurch, dass zunehmend autokratische Systeme global „wettbewerbsfähig“ sind und „eine Reihe von Problemen lösen, die in demokratischen Staaten nicht gelöst werden können“. Wettbewerbsfähig kann ökonomisch, (macht-)politisch und gesellschaftlich verstanden werden – oder alles zusammen. Grund dafür ist die Digitalisierung und, muss man wohl hinzufügen, die dadurch beschleunigte Globalisierung. Autokratische Systeme können auf diese Herausforderungen, so Jäger, offenbar besser und effektiver reagieren als demokratische Regierungen. Als Beispiel führt er den Zerfall der öffentlichen Meinung in „Echo-Kammern“ mit jeweils eigenen „Wahrheiten“ an und hat dabei das Trump-Amerika vor Augen. Das könnte auch einen Hinweis darauf geben, an welche Probleme Jäger denkt, die autokratische Systeme besser lösen können, nämlich die Kanalisierung und Lenkung der öffentlichen Meinung und Willensbildung durch Zensur, Propaganda, Kontroll- und Sicherheitsapparate, welche die Meinungsfreiheit einschränken und das Verhalten der Bürger steuern. Die „gelenkte Demokratie“ Putins, ein früheres Schlagwort, hätte sich somit als Erfolgsmodell erwiesen.

Gerade zu diesem letzten Punkt findet sich aktuell bei FAZ.NET (22.11.2017) ein beklemmender Artikel über eine Dystopie, wie sie augenscheinlich in China bereits Wirklichkeit wird: Hendrick Ankenbrandt schreibt: China plant die totale Überwachung. „Mit einem gigantischen Punktesystem wollen Chinas Kommunisten jeden einzelnen Bürger zu sozialistisch-tugendhafter Folgsamkeit zwingen. Regierungskritiker werden bestraft.“ Hier fließen die aktuellen Entwicklungen eines autokratischen Systems, der Anwendung von Spitzentechnologien, durchgehender Digitalisierung, schrankenloser Nutzung von Big Data und KI zur Erkennung, Bewertung und Steuerung (Belohnung / Bestrafung) individuellen und sozialen Verhaltens durch die zentralen Analysealgorithmen des Staates / der Partei zusammen und bringen nationale ebenso wie globale Handels- und Herrschaftsstrategien und ihre Regeln, die globale Sicherung von Ressourcen sowie einen selbstbewussten Machtanspruch gegenüber allen möglichen Konkurrenten zum konzentrierten Ausdruck. Hinter allem steht der unausgesprochene und nicht völlig unbegründete Anspruch, gegenüber dem ‚abgewirtschafteten‘ und ‚maroden‘ Westen (USA, Europa), das bessere, weil erfolgreichere und effektivere Herrschafts- und Gesellschaftsmodell ebenso wie die überzeugendere („harmonische“) und sich potentiell weltweit durchsetzende Kultur bieten zu können. Individuelle Rechte, Menschenrechte, Meinungsfreiheit usw. galten den führenden Chinesen schon lange als kulturalistische abendländische Einseitigkeiten. Heute schickt China sich an, in jeder Hinsicht die dominierende Macht des 21. Jahrhunderts zu werden. Man muss sich anpassen, arrangieren – oder akzeptieren, bedeutungslos zu werden. Da ist es schon nicht mehr verwunderlich, wenn dieser Tage der chinesische Internetkonzern Tencent (Shenzhen) den Börsenwert von Facebook (USA) überholt hat. – Da konkurriert nur noch das Russland Putins mit demselben Rezept.

Was bedeutet dies alles für die liberalen, ‘offenen’ Gesellschaften des Westens, für unsere pluralistischen Demokratien, für das abendländische, aber bisher als universell geltende Erbe der griechisch-römischen Antike und die Werte der Aufklärung? Sind unsere Vorstellungen von Freiheit, Selbstbestimmung, Individualität, Solidarität, Vernunft und Offenheit (auch gegenüber Religionen und Ideologien) historisch obsolet geworden? Es könnte danach aussehen, will sagen: Das könnte der Fall sein oder doch alsbald werden.  Die Entwicklungen um uns herum lassen wenig andere Interpretationen zu:

– Der Trend zu ‘erfolgreichen’ autokratischen Regimen nimmt in vielen Weltregionen zu; eine postdemokratische Ära gewinnt Gestalt.
– Die Probleme der westlichen Demokratien durch innere Zersplitterung und autoritäres Ausfransen an den Rändern (Rechts- und Links-Populismus) sind offenkundig.
– Die Gültigkeit und Anerkenntnis internationaler Verpflichtungen, Rechte und Normen wird brüchig, wenn Macht vor Recht geht und Macht nicht mehr durch das Recht begrenzt wird.
– Postfaktische Beliebigkeit und konstruktivistischer Relativismus (alles ist möglich und wirklich, es muss nur behauptet und verbreitet werden), verstärkt durch digitale „Echo-Kammern“, befeuert durch eine rechts-nationalistische Politik der US-Präsidentschaft, gewinnen massiv Bedeutung gegenüber rationalen Begründungen und Diskursen eines liberalen Journalismus und Wertepluralismus.
– Religionen, Ideologien und Verschwörungstheorien sind gegenüber Aufklärung, Vernunft und Wissenschaft auf dem Vormarsch.
– „Volk“ ist plötzlich wieder ein politisch angereicherter Begriff geworden, der gegen einen ‘blutleeren’ Staat und sein Elitensystem positioniert wird.
– Globalisierung als vorgebliche Chance für alle, zu Gewinnern zu werden, entpuppt sich als Rückkehr des Raubtierkapitalismus der Starken, Mächtigen und Gewaltbereiten, demgegenüber die Zurückbleibenden chancenlos sind.
– Es schält sich eine Fraktionierung der Welt heraus in die wenigen unglaublich reichen Eliten, die sich einigeln und um sich herum Mauern und Stacheldraht hochziehen, und der Masse der ‘Parias’, die sich unter anderem als Migranten auf die Suche nach Lebenschancen begeben müssen.
– Die Zunahme der Weltbevölkerung einerseits und die sich beschleunigende Klimaveränderung andererseits können vor allem im Zusammenspiel zu Auslösern gewaltiger Krisen der Weltgesellschaft(en) werden.
– Die schöne neue Welt globaler Verflechtungen, die neuen digitalen Welten und die Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz setzen sich urwüchsig durch zugunsten derjenigen, die sich davon den größten Profit versprechen; statt einer „Singularität“, die das Paradies herbeiführt, droht die Hölle der Selbstvernichtung und Entkultivierung großer Teile der Menschheit: Glitzernde Metropolen – und die ausgetrockneten Ebenen voll mit Flüchtlingslagern.

 

Wir diskutieren hierzulande gerade über die Regierungsbildung. Wichtige Fragen sind bei den sogenannten Sondierungen gewesen, wann und in welchen Etappen der Soli abgeschafft wird, ob und wann Energiegewinnung aus Kohle und fossile Verbrennungsmotoren verboten werden und wer die Digitalisierung bezahlen soll. Aber Europa und die Machtverschiebungen in der Welt warten nicht. Man könnte meinen, Politik sei hierzulande gerade wie ein Kindergarten, der sich über die Anlage eines neuen Spielplatzes zerstreitet. Die Beschränktheit und Ignoranz ist unbegreiflich. Und keiner wird merken, wenn der Bagger kommt und den ganzen Kindergarten samt Spielplatz abräumt.

 

Reinhart Gruhn

Eine Antwort auf „Wo solls denn langgehen?“

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