Unter der Überschrift „Demo-crazy“ kritisiert Ferdinand Kirchhoff in einem Artikel für die FAZ (21.12.2017 FAZ plus) den Zustand unserer Demokratie in zwei Hinsichten: im Blick auf die EU und im Blick auf die innere Verfasstheit in Deutschland. Wenn ein renommierter Verfassungsrechtler und Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts sich öffentlich zu unserer Demokratie äußerst, sollte ihm große Aufmerksamkeit gewiss sein. Es zeigt sich schnell, dass es ihm wohl verfassunsrechtlich, aber noch viel mehr rechtspolitisch auf den Nägeln brennt. Seine juristischen Argumentationen können nur Juristen angemessen beurteilen, seine politische Würdigung und Zielrichtung ist für jedermann nachvollziehbar. Die Argumente sind erstaunlich oft nicht überzeugend.
1. Kirchhoff argumentiert wiederholt mit rein quantitativen Angaben, ohne qualitativ zu differenzieren. Was ist denn inhaltlich im einzelnen gemeint, wenn er „60 – 70 % der deutschen Rechtsordnung“ auf EU-Normen beruhend vermutet – ohne ausreichende demokratische Legitimation, wie Kirchhoff unterstellt? Und was ist mit diesen penibel gezählten 64285 EU-Dokumenten, die im Jahr 2016 das deutsche Parlament erreicht haben, die keineswegs nur Gesetzesvorschläge enthielten, wie Kirchhoff selbst zugibt, die aber den deutschen Gesetzgeber angeblich völlig überforderten, da er nur 49 Mal dazu Stellung genommen habe? Vielleicht waren aber diese 49 Stellungnahmen gerade die Wichtigen? Auch das kann nur inhaltlich geprüft und beurteilt werden.
2. Einerseits bescheinigt Kirchhoff der EU und ihren Institutionen ein „unstreitiges Demokratiedefizit“ (z. B. wegen ungleicher Stimmgewichtung), andererseits beschreibt er zutreffend, dass die EU eben keine bundesstaatliche, sondern eine zwischenstaatliche Ordnung ist (Staatenbund), deren Entscheidungsprozesse überwiegend intergouvernemental verlaufen. Herren der Verträge sind die Einzelstaaten. Darum passen auch die von ihm vorgeschlagenen Volksabstimmungen weder rechtlich noch politisch auf der EU-Ebene. Merkwürdigerweise nimmt hier Kirchhoff wiederum Zuflucht zu einem Zähl-Argument: Brüssel könne schon wegen der Entfernungen zwischen Finnland und Portugal nicht Mittelpunkt demokratischer Willensbildung der europäischen Völker sein. Nach dieser Logik könnten auch die USA keine funktionierende Demokratie sein, da Washington kontinentweit von vielen Bundesstaaten entfernt liegt. Was für ein erstaunliches Argument im Zeitalter des Internets! Zutreffend ist sicher der Hinweis, dass eine demokratische Willensbildung auf EU-Ebene durch unterschiedliche Sprachen und durch das Fehlen EU-weiter Parteien und Medien erschwert wird. Vielleicht ist dies aber vor allem zusammen mit den von ihm nicht erwähnten kulturellen Unterschieden innerhalb der EU-Länder ein hinreichender Grund dafür, dass die EU eben kein Bundesstaat ist und es auch weder rechtlich noch politisch werden kann.
3. Nach innen hin gewendet sieht Kirchhoff unsere Demokratie als gefestigt an, sieht aber Gefahren, die ihn auf eine Art Dekadenzentwicklung der gesellschaftlichen Meinungs- und Willensbildung schließen lassen. In der Öffentlichkeit sehe es heute so aus: Statt vernünftig Argumente zu wägen und sich auf eine sachorientierte Diskussion einzulassen, die darauf beruht, dass auch das Argument des anderen richtig sein kann, herrschten intolerante Rechthabereien vor, die von Emotionen und Unsachlichkeiten getrieben seien. Damit hat er vielleicht auch die in sozialen Netzwerken ablaufenden Meinungsäußerungen im Blick, nennt sie aber nicht. Diese Kennzeichnung ist inzwischen zu einem Allgemeinplatz geworden, die oft als Boulervardisierung der Politik beklagt wird und die durch Talkshows nicht behoben, eher verstärkt werde: Der Bürger als „Missionar“ seiner Meinung. Man kann mit einigem Recht bezweifeln, ob dieser also bemängelte Zustand eine zutreffende Diagnose darstellt. Bei Kirchhoff wird allerdings ein Zerrbild daraus, das sich nur mit einer sehr professoralen Zuwendung zur politischen Diskussion erklären lässt. Wo anders als in Seminarräumen wäre es ausgeschlossen, dass in engagierten Diskussionen „Meinungsunterschiede nicht mehr sachlich untereinander abgewogen, ökonomische Erwägungen oder Zweckmäßigkeitsfaktoren gar nicht mehr einbezogen und die Gleichwertigkeit anderer Ansichten nicht mehr anerkannt“ wird und somit der „eigene Standpunkt als ethisch zwingend“ dargestellt, die „Gegenargumente tabuisiert … und fremde Gegeninteressen ins Abseits der Unlauterkeit und des Unmoralischen“ gestellt werden. Ich behaupte einmal im Rückblick: Das war in der Politik schon immer so, oder ist die Verunglimpfung Willy Brandts „alias Fram“ schon vergessen oder die „Rote-Socken-Kampagne“ oder die hitzige Diskussion über die Abtreibung, wo sich Befürworter des Lebens und „Mörder“ gegenüberstanden? Die Liste ließe sich über alle wichtigen Themen der bundesrepublikanischen Vergangenheit fortsetzen: Ostverträge, Nachrüstung, Atomenergie usw. Mit der Kritik der „Moralisierung“ der Politik und ethischer „Absolutheitsansprüche“, die eine offene Diskussion verhindern, hat Kirchhoff durchaus recht, aber das sind keine neuen Risiken der Demokratie, sondern ihre ständigen Begleiter. Heute kommt die Schnelligkeit der Medien im Netz, die Wichtigkeit von Aufmerksamkeits-Triggern und die ungefilterten Stammtischparolen und teils hysterischen Aufreger in sozialen Netzwerken dazu. Wie weit diese mehr sind als bloße Stimmungsventile und Angeberei in Filterblasen, müsste erst noch untersucht werden. Hierin eine besondere Gefährdung der Demokratie zu sehen, ist insofern übertrieben, als dadurch andererseits mehr Menschen an Diskussionen (leider eben auch mit Hass-Reden) beteiligt sind und Stimmungen deutlicher und offensichtlicher abgebildet werden. Andererseits sind Facebook-Kommentare überwiegend unpolitisch, und die politisierte Twitterei ist nur einer kleinen Gruppe von Twitterern vorbehalten, die in den Medien viel Aufmerksamkeit erfahren.
4. Starker Tobak ist sein vernichtendes Urteil: „ Die Bundesregierung vermeidet zunehmend eine Beteiligung des Parlaments. … Dem Parlament sind wieder seine prärogativen Entscheidungsbefugnisse zurückzugeben, damit dort die Politik in öffentlichem Diskurs, transparent und demokratisch bestimmt wird.“ Wenn das richtig wäre, dann wäre unsere Demokratie bereits am Ende und existierte nur noch zum Scheine. Dem ist offenkundig nicht so. Kirchhoffs Kritik trifft die heutige Politisierung von Parlament und Öffentlichkeit kaum zutreffend. Seine Beispiele, in welchen Situationen die Gesetzgebung des Parlaments die Regierungsentscheidungen zeitlich verspätet nur noch nachvollzogen haben (Finanzkrise, Atomausstieg, Wehrpflicht), sind dennoch keine Beispiele für Abnicken gewesen. Selbst wenn die jeweilige Schlussabstimmung im Parlament zeitlich später als das gouvernementale Handeln lag, so waren doch die Beratungen der Gesetze während der drei Lesungen aufs Engste mit den parlamentarischen Beratungen insbesondere der Regierungsfraktionen verzahnt, – anders wäre die Beschlussfassung auch nach dem hohen Selbstverständnis des Parlaments kaum möglich gewesen. Kirchhoff fixiert hier Einzelpunkte aus einem Prozess innerhalb des politischen Gesetzgebungsverfahrens. Daraus abzuleiten, das Parlament wehre sich gegen diese Art von Selbstentmachtung „erstaunlicherweise nicht“, geht doch an der Wirklichkeit vorbei.
Eine „Revitalisierung des Parlaments“ ist immer wünschenswert und auch erforderlich, erfreulicherweise ist aber genau diese Belebung derzeit festzustellen. Gesellschaftlich vielfach kontrovers diskutierte Gesetzesvorhaben zum Beispiel zur Vorratsdatenspeicherung, zum Datenschutz, zum Urheberrecht, zu Änderungen des EEG usw. finden auch im Parlament ein lebendiges Echo. Die Möglichkeiten von Bürgern, mittels der Neuen Medien ihre Interessen zu artikulieren, sich vernehmlich zu Wort zu melden, Lobbygruppen zu bilden oder zu unterstützen und nicht nur mit Shitstorms auf politische und so auch auf parlamentarische Prozesse Einfluss zu nehmen, war wohl noch nie so groß wie heute. Man kann zwar in der politisch aufgeregten und polarisierten Medien-Öffentlichkeit ein Risiko der Verführung und Trivialisierung erkennen, das sachliche Entscheidungen erschwert. Aber gerade darin bewährt sich eine parlamentarische Demokratie, die das Parlament nicht zuletzt als sachorientierten Filter und ausgleichende Clearingstelle nutzen kann, – bei aller Bereitschaft und Notwendigkeit zu engagierten Debatten, nicht nur vor und neben, sondern im Parlament. Davon könnte es in der Tat noch mehr geben. Dass wir darüber hinaus noch sogenannte Volksabstimmungen brauchen, wage ich zu bezweifeln.
Professor Kirchhoffs Überlegungen und Anregungen zum Stand der Demokratie in Deutschland und der EU sind gut und hilfreich, auch wenn man sie als zu einseitig und stellenweise politikfremd nicht teilt. Eine Diskussion darüber ist in jedem Falle wünschenswert und, wie man heute so gerne sagt, „zielführend“.
Reinhart Gruhn