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Erwartungen ans neue Jahr

Die Rückschau auf das, was an Bemerkenswertem und Nachhaltigem in diesem Jahr geschehen ist, und  daraus folgend eine Vorschau auf das, was zu erwarten, zu hoffen, zu wünschen ist, kann nur sehr subjektiv sein. Aber auch dies Subjektive ist doch ein Spiegel dessen, was in der Welt um mich herum geschehen ist und weiter geschieht. So lade ich ein zu einem Spaziergang in Gedanken, die auch die „List der Vernunft“ nicht auslassen…

Rückblicke auf das zu Ende gehende Jahr gibt es in diesen Tagen zuhauf. Wie immer, wenn man das so liest, wundere ich mich, wie manche Dinge tatsächlich erst vor weniger als Jahresfrist geschehen sind, wo sie doch schon so „ewig“ lange zurück liegen, und wie das, was sie vielleicht ausgelöst haben, längst zur Normalität gehört, –  die Landtagswahlen in Baden-Württemberg zum Beispiel. Viele Ereignisse mehr gibt es, die erst in den letzten zwölf Monaten passiert sind und die uns doch bereits zu einer fernen Vergangenheit gehörig scheinen. Dies zu verdeutlichen, dazu sind solche Jahresrückblicke gedruckt oder im Bild gar nicht schlecht.

Aber ich frage einmal anders: Was ist im vergangenen Jahr nicht voran gebracht worden, obwohl es sehr zu hoffen und zu wünschen gewesen, ja in manchen Fällen geradezu notwendig gewesen wäre? Was hat sich entgegen den früheren Erwartungen dennoch verändert, überraschende Ergebnisse gebracht oder neue Perspektiven eröffnet? Und schließlich die dritte Frage: Was bedeutet das für die Aussichten und Erwartungen für das neue Jahr?

Ich greife einfach etwas heraus aus der Menge dessen, was sozusagen unerledigt blieb.  Dazu gehört sicher die „Arabellion“ und erst recht „Fukushima“ – ein Fanal der hochsensiblen technologischen Zivilisation, die uns bestimmt: Erdbeben sind da nicht eingeplant. Etwas viel Gravierendes meine ich. Der Hunger, das heißt der lebensbedrohliche Mangel an Nahrung und grundlegenden Existenzmöglichkeiten (Wohnung, medizinische Versorgung, ganz zu schweigen von Arbeit und Bildung) in großen Gebieten unserer Erde ist nicht wirklich nachhaltig bekämpft oder gar verringert worden. In der Mitte des zurück liegenden Jahres richtete sich zwar einige Aufmerksamkeit auf Ostafrika, eine umfangreiche, durch Internet, Radio und TV begleitete Katastrophenhilfe rollte an und bewegte hierzulande Menschen, Medien und Hilfsorganisationen. Auch die von Menschen gemachten Ursachen wurden genannt. Aber inzwischen ist die Karawane zur nächsten Katastrophe weiter gezogen. Erdbeben, Überschwemmungen, Tsunamis, – irgend etwas ist immer los. Geben wir es auch ruhig zu: Dauernd nur mit ein und demselben nahezu unlösbar erscheinenden Problem konfrontiert zu werden, hält keiner aus; man macht „zu“. Das „Thema Hunger“ kommt und geht bei uns, der „Hunger“ selber bleibt. Diese Enttäuschung kann man übrigens trotz der wichtigen Milleniums-Ziele der UN alljährlich konstatieren.

Mit einer offeneren, toleranteren Gesellschaft sind wir offenkundig auch nicht entscheidend weiter gekommen. Nicht nur die Neonazi-Morde von verbohrten, letztlich nur verbrecherischen Gruppen, sondern der dadurch aufgedeckte erheblich virulente (wörtlich, wie ein tödlicher Virus) rechtsradikale und rechtsterroristische „Rand“ ragt immer noch und gefährlicher als bisher mitten in unsere Gesellschaft. Auch die sich häufende Gewalt in U- und S-Bahnen, die zu erklären man mit herkömmlichen Mustern nicht weiter kommt, macht ratlos und beklommen. Ob es nun Migranten-Jugendliche sind, die im Hass willkürlich einem Passanten den Kopf zertreten, oder ob es deutschstämmige junge Leute sind, die einfach aus tödlicher Lust an einem Schwächeren einen Gewaltexzess verüben, man bleibt fassungslos und ohne wirkliche Erklärung zurück. Wie kommt es zu solch einer Verwahrlosung des Menschen und seines Verhaltens, ohne dass Krieg oder andere „Notstände“ als Erklärung dienen können? Solidarität und Zivilcourage werden dann beschworen, und es gibt sie ja auch wirklich, aber welches sind die Fehler Einzelner und welches die Fehlstellen in der Gesellschaft, die gerade junge Menschen derart entgleisen lassen? Dass es anderswo auch geschieht, dass wir im Sommer die unfassliche Brutalität des Attentäters von Oslo erleben mussten, macht den Umgang mit diesen Phänomen der Gewalt und Enthemmung nicht leichter. Es bleibt erklärungsbedürftig; es macht uns in unserem zivilisatorischen Selbstverständnis – oder sollte ich sagen: Dünkel? –  ratlos, hilflos.

Sind wir weiter gekommen, was die Kultur des Aufeinander-Achtens, des pfleglichen Umgangs mit den endlichen Ressourcen, der gegenseitigen Aufmerksamkeit (um das totgeredete Wort Solidarität zu vermeiden) und des offenen, geduldigen, durchaus auch anstrengenden Diskurses in einer freien und pluralen  Bürgergesellschaft angeht? Ist unser Denken und unser Rechtsempfinden, sind unsere Wertvorstellungen und  Meinungsbildung dem gesellschaftlichen Wandel gerecht geworden? Was ist überhaupt „gerecht“, wenn „Gerechtigkeit“ mehr sein soll als bloß ein Kampfbegriff zur Durchsetzung meiner vernachlässigt geglaubten Interessen? Der Verlauf und vorläufige Ausgang des Streites um „Stuttgart 21“ hat mir eher das Gegenteil deutlich gemacht: Verbohrte Interessenvertretung, Nicht-Aufeinanderhören, die gegnerische (!) Meinung verteufeln, Uneinsichtigkeit, Verlogenheit und sture Rechthaberei auf allen Seiten, dazu immer wieder das Spiel mit bestimmten machtpolitischen Kalkülen – ja, das war schon etwas, was es noch ausgiebig zu studieren und zu analysieren gilt. „Stuttgart 21“ hatte nicht nur symbolischen Charakter, sondern hat offenbar auch für unsere Zeit und das Selbstverständnis einer überforderten (oder nur saturierten?) Gesellschaft eine paradigmatische Bedeutung. Ob es wirklich eine „Politisierung“ befördert hat, sei einmal dahin gestellt. Das gilt eher für den Ausgang der Landtagswahlen: Das war allerdings ein unübersehbares Zeichen, sozusagen ein heftiger Schlag an die Glocke der bisher Mächtigen im „Ländle“: Das Wahlvolk wollte ganz klar eine Veränderung, wenn nicht der politischen Verhältnisse (siehe Volksabstimmung), so doch der handelnden Personen auf der landespolitischen Bühne. Und das ist ja schon einmal etwas.

Insofern gehören diese zuletzt angeführten Ereignisse auch zu den überraschenden Bewegungen, die es im vergangenen Jahr gegeben hat und die so deutlich weitere 12 Monate vorher niemand auf der Rechnung hatte. Zu diesen bemerkenswerten Veränderungen, die wie ein leichtes, aber spürbares Zittern durch die Fundamente unserer Gesellschaft gelaufen sind, gehört ein anderes Wahlergebnis, und zwar das der PIRATEN bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus in Berlin – nur in Berlin, aber immerhin in Berlin, ein Hauptstadtereignis also. Was diese Gruppierung, gerade erst als Partei formiert, wirklich an neuen Impulsen bringen kann, muss sich erst noch zeigen, aber die Tatsache als solche, das Frische, scheinbar Unbekümmerte, jugendlich Unbedachte und Unfertige faszinierte, und das mit einem Wahlergebnis mit knapp 10 % aus dem Stand heraus, das war schon umwerfend. Da rede noch einer von gesellschaftlicher und politischer Verkrustung! Die Krusten haben ganz schön gebröckelt in diesem Jahr. Das allein ist positiv, meine ich. Was dann letztendlich an neuen Inhalten transportiert oder gar umgesetzt wird, muss sich erst noch zeigen. Ob es dann wirklich über die ureigensten Piraten-Themen der Netzfreiheit nachhaltig hinaus geht, ob die anderen flugs bundesweit beschlossenen Themen wie „BGE“ (bedingungsloses Grundeinkommen, ja keine sehr neue und besonders originelle Idee) und Rauschmittelfreiheit (!?) als politische Grundaussagen ausreichen, darf bezweifelt werden. Auch allerlei Krudes im Blick auf den Umgang mit (Ex-) Nazis in den eigenen Reihen, über Esoterik und anderes Weltanschauliche von Funktionsträgern, das vorschnell zur Privatangelegenheit erklärt wird, kommt bei der medialen Aufmerksamkeit ans Licht, was bei einer so jungen und heterogenen Gruppierung kaum verwunderlich ist. Positiver Impuls: ja, aber ob inhaltlich von Bestand: zweifelhaft.

Das „soziale Netz“ der Medien wird verstärkt öffentlich wahrgenommen und darüber, was sich durch Internet und Netzkommunikation schon verändert hat (das ist viel weniger als oft behauptet) oder sich noch mittelfristig ändern kann (das ist mehr als bisher zu sehen ist), wird zumindest auf kommerzieller Ebene, aber eben auch, und das ist bemerkenswert, auf der Ebene der Netz-Teilnehmer selbst eifrig und engagiert diskutiert. Auch hier muss man nicht jede Heilsverheißung für bare Münze nehmen und auch nicht jedes Überlegenheitsgehabe der ‚Netizens‘, man habe gerade die ultimative Form menschlichen Zusammenlebens erfunden, als ernsthaft ansehen. Da spricht sich neben viel Utopischem auch manch Unausgegorenes, wenig Be- und Durchdachtes und schon gar nicht geschichtlich Verantwortetes aus. Die live zu verfolgenden Diskussionen auf dem Bundesparteitag der Piraten hatten zum Teil etwas erschreckend Ahnungsloses und Naives an sich, vorgebracht aber mit umso größerem Sendungsbewusstsein einer sich zu einer Welt-Beglückungs-Mission berufen fühlenden technisch-alternativen „Elite“. (So schnell ist „Öko“ out!) Das gibt sich, das schleift sich ab. Zur Not müssen da auch einmal Grenzlinien gezogen werden – wenn nicht von selbst, dann durch den / die Wählerin.

Das wirkliche Leben ist zum allergrößten Teil von solchen teils ernsthaften Diskursen, teils offenkundigen Spinnereien weit entfernt. Es bleiben viele Dinge  aus dem Dezember 2010 auch ein Jahr später noch unerledigt auf der Tagesordnung. Die Frage nach einer verbesserten, an das Wohlergehen der Bevölkerungen gebundenen Wirtschaftsordnung, sowohl national als auch international, wird immer drängender. Dass Armut und Reichtum so eklatant auseinander laufen, ist auf die Dauer moralisch und politisch schlicht nicht erträglich – und der Weltökonomie auch keineswegs zuträglich. Die sogenannte Schuldenkrise ist dafür nur ein Symptom. Die Stillung der grundlegenden Bedürfnisse einer wachsenden Weltbevölkerung ist eine weitere unaufschiebbare Aufgabe. Und schließlich die Erhaltung unserer Welt als eines Planeten, auf dem auch unsere Nachkommen noch gut leben sollen innerhalb einer bewahrten und geschützten, unglaublich vielfältigen und formenreichen Pflanzen- und Tierwelt, dieser Gedanke einer Verpflichtung müsste ohne alle Katastrophen-Szenarien noch viel stärker in das Bewusstsein der Menschen gehoben werden. Ohne äußerste Anstrengung zur Aufklärung und Bewusstmachung wird es nur bei dem bleiben, was ohnehin schon „ist“: dass man nur an das jeweils Nächstliegende und für den konkreten Einzelnen Nützliche denkt. Hier ist etwas Neues erforderlich, das eine neue Dimension menschlichen Denkens und Handelns verlangt. „Globales Denken“ nennt man das wohl. Mehr und entschlossenere Schritte dorthin, und zwar konkret und in kleiner Münze politisch, ökonomisch, ökologisch, sozial, sind mir für das neue Jahr das Wichtigste. Dafür lohnt es zu streiten, zu schreiben, seine Meinung kund zu tun. Vielleicht ist auch noch mehr nötig. Die „Occupy-Bewegung“ hat da einiges vor gemacht.

So beschließe ich diesen Gedankengang weniger mit Skepsis und Befürchtung des „Weltuntergangs“, als vielmehr mit Hoffnung und Zuversicht, dass sich letztlich die Vernunft durchsetzen wird. Die Vernunft? „Träum weiter!“ ruft man mir zu. Schon gut, schon gut, ich kenne wohl die Grenzen der Vernunft. Sie sind allzu deutlich. Aber ich kenne auch die „List der Vernunft“ – und darauf setze ich.