Die Krise der globalen Herausforderungen und das Ende des Petrozän.
Es wird vielfach behauptet, die Polarisierung nehme rasant zu in unserer Gesellschaft. Wenn man näher in der eigenen Umgebung hinschaut, kann man davon gewiss manches entdecken, aber längst nicht in dem Ausmaß, wie es die anstehenden Probleme der Veränderung in der Welt vermuten ließen. Man darf sich dabei nicht vom Bild der social media Plattformen täuschen lassen, sie spiegeln mitnichten die alltägliche Wirklichkeit. Nur ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung tummelt sich regelmäßig auf den Internet – Marktplätzen der polarisierten Meinungen. Die meisten Menschen nutzen Facebook und Whatsapp rein privat in der Familie und im Freundeskreis. Die trotz allem noch zu vielen Schreihälse und Selbstdarsteller, Hetzer und Pöbler samt den bots und fake accounts vergiften das Klima in diesen öffentlichen Medien und verzerren die Wahrnehmung. Gewiss, es gibt weit mehr Leser bei Twitter bzw. Zuschauer bei Youtube als Schreiber und Produzenten, aber das genügt offenbar, um den Eindruck einer hasserfüllten, intoleranten und fake news konsumierenden Öffentlichkeit zu erwecken. Wann wird man mit so etwas im Alltag, also IRL (in real life), konfrontiert? Zum Glück bisher selten und ausnahmsweise. Dagegen gibt es eher zu wenig von einer breiten und transparenten, von einer engagierten und um die Zukunftsfragen streitenden öffentlichen Diskussion.
Es gibt Rücksichtslosigkeit, das fällt bisweilen auf, – ob rücksichtsloses Verhalten tatsächlich häufiger wird oder Aggressivität zunimmt, kann ich nicht beurteilen. Die Statistiken (Kriminalität) sprechen eher dagegen. Es gibt drastisch unangemessenes Verhalten, das dann sogleich medial verbreitet und potenziert wird. Selbst auf den Straßen im dichtesten Verkehr geht es eigentlich überwiegend friedlich und angepasst zu – die wenigen Ausreißer fallen dann umso mehr auf. Vielleicht ist es aber auch nur der Fatalismus, dass im Stau ohnehin nichts gegen den Stau hilft. Auf kleinerem Raum allerdings, in den Städten, in Fußgängerzonen und auf Plätzen ist das rücksichtslose Gegeneinander der verschiedenen Verkehrsteilnehmer oft auffallend und unangenehm. Man rückt sich zu nah und bedrohlich auf die Pelle und beschimpft sich, statt sich ruhig und tolerant zu verhalten im öffentlichen Miteinander.
Denn eines fällt tatsächlich auf: Wir werden mehr. In den ohnehin schon bevölkerungsreichen Ballungsgebieten nimmt das Wachstum der Bevölkerung weiter zu. Es gibt zwar auch bei uns Regionen, die dünn besiedelt sind und unter Auszehrung und Bevölkerungsschwund leiden, aber das sind nur wenige Gebiete. Im Allgemeinen sind auch die naturnahen Regionen von der Freizeitindustrie beherrscht und an schönen Wochenenden und in den Schulferien überlaufen. Man muss schon ziemlich suchen und genau hinschauen, um Einsamkeit und wirkliche Ruhe in einer natürlichen Landschaft zu finden. In Westeuropa gelingt das immer seltener.
Aber selbst wenn es zwar etwas weiterer Wege und Vorbereitung bedarf – es gibt sie noch, abseits liegende Orte und Gegenden, in die man sich ziemlich alleine und auf sich gestellt zurückziehen kann, wenn man es denn aushält. Die Stadt als solche ist es, die weltweit Menschen massenhaft anzieht mit Hoffnungen auf Arbeit und Auskommen. Andere zieht die Abwechslungsmöglichkeit, die Wahl so vieler verschiedener Lebensmöglichkeiten, das Angebot unglaublich vielfältiger Freizeit- und Kulturmöglichkeiten in den großen Städten an. Stadtluft verspricht Lebendigkeit, Aufmerksamkeit, Abwechslung und Zerstreuung. Die großen Städte bieten zudem Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten in Fülle an, das Angebot von Wohnungen kommt der Nachfrage bekanntlich nicht hinterher. So viele Menschen aus unterschiedlichsten Herkünften, Kulturen, Schicksalen, mit ebenso unterschiedlichen Hoffnungen, Aussichten und Möglichkeiten treffen aufeinander. Da kreuzen die regulären und rechtmäßigen Wege „nach oben“ ebenso viele unrechtmäßige, vielfach kriminelle Wege zu persönlichem Vorteil, zu Macht und Reichtum. Gentrifizierung und kriminelle Clans sind letztlich zwei Seiten einer Medaille: der Stadt mit ihren vielfältigen, widersprüchlichen Möglichkeiten.
Die Verstädterung ist ein weltweites Phänomen. Metropolen mit mehreren Millionen Einwohnern nehmen rasant zu und wachsen weiter überall auf dem Globus. Die Versorgung dieser vielen Menschen mit Wohnung, Nahrung und Energie wird ein zunehmendes Problem. Wasser wird zum kostbaren Gut, sauberes Trinkwasser erst recht. Es ist nicht nur der Klimawandel, der in vielen Regionen für Wassermangel sorgt. In den Megastädten, gewissermaßen den Regionen der typischen Lebensweise und Lebensverhältnisse der Zukunft, prallen die Interessen, Konflikte und Meinungen aufeinander. Es ist der harte Kampf ums Überleben, der an erster Stelle steht, um Zukunft, Chancen und Lebensmöglichkeiten für sich und seine Kinder. In der Schweiz gabe es vor einigen Jahren im Rahmen der „Ausschaffungs-Initiative“ das Schlagwort „Dichtestress“. Da ist etwas dran, und zwar vor allem in den übervölkerten Metropolregionen weltweit. Wenn dieser Globus in 30 Jahren, also einer Generation, mehr als 10 Milliarden Menschen beherbergen wird, dann wird sich etwas verändert haben, und zwar massiv. Da dürften unsere jetzigen Dissense und Dissonanzen nur ein kleiner Vorgeschmack sein. Konsens ist bekanntlich nur dann möglich, wenn man bei Auseinandersetzungen und Streit aufeinander hört und den anderen zu verstehen sucht, Maximalpositionen aufgibt, um einen Kompromiss zu finden, der beiden Seiten etwas Recht gibt und Zusammenleben weiterhin möglich macht. Wo es allerdings zu eng wird, verliert der Kompromiss an Attraktivität: Vielleicht nimmt mir der Kontrahent gerade die einzige Lebensmöglichkeit, die ich sehe. Dann wird ein fairer, beiden entgegenkommender Kompromiss nicht mehr möglich sein, – Intoleranz und Gewalt (Faustrecht) drängen sich dann als „Lösung“ auf.
Auf drei Ebenen sehe ich zunehmend Konflikte sich verschärfen, Ressourcen verknappen und Bereitschaft zu Kompromissen schwinden: beim kaum mehr zu verhindernden Klimawandel, durch das ungebremste Bevölkerungswachstum und bezüglich der sozialen Disparitäten, die Chancen für alle verhindern.
Klimawandel *) : Das Klima als hyperkomplexes System ist ausgesprochen träge, es kann sozusagen viel wegstecken. Aber dann, wenn eine bestimmte Schwelle überschritten wird und verstärkende Faktoren mehr Gewicht bekommen haben und zusammenwirkende Ursachen zunehmen, kann man aus menschlicher Sicht nur noch wenig tun, um diese Entwicklung zu stoppen. Es ist schon sehr viel gewonnen, wenn man die beschleunigenden Faktoren (zum Beispiel CO2- und Methan-Ausstoß) verringert, um die weitere Beschleunigung des Temperaturanstiegs zu verhindern. Das 2° – Ziel wird sich kaum mehr erreichen lassen – umso wichtiger wird es, den Anstieg so früh und nachhaltig wie möglich zu begrenzen. Außerdem sollten mindestens ebenso viele Mittel auf die Bekämpfung der Folgen der Klimaerwärmung (Dürren, Unwetter, Meeresspiegelanstieg) verwandt werden wie auf die Bekämpfung des Temperaturanstiegs als solchen.
Bevölkerungswachstum: Ich finde es erstaunlich, wie wenig dies ein öffentliches Thema ist. In regelmäßigen Abständen werden Prognosen über die Zunahme der Weltbevölkerung veröffentlicht, aber es scheint eigentlich niemanden zu kümmern, – allenfalls dass man in Europa wegen wahrscheinlicher Überalterung (Bevölkerungsschwund) an politischer und ökonomischer Bedeutung verliert. Dabei dürfte die Begrenzung des Bevölkerungswachstums eine künftige Herausforderung ersten Ranges sein. Wie das überhaupt einigermaßen konfliktarm gelingen können soll, ist mir schleierhaft. Man kann aber auch zynisch auf „Selbstregulation“ setzen: Kriege, Krankheit, Seuchen. Dies ist aber keine humane und verantwortungsvolle Option. Es wird Zeit, dies zum Thema zu machen.
Intoleranz / Verteilungsgerechtigkeit: Soll sich der Kampf aller gegen alle nicht als letztes (Macht-) Mittel erweisen, was bedeuten würde, dass die Mächtigen alleine die Lebensoptionen diktieren (man könnte einschränken: noch mehr als jetzt schon), dann sind Toleranz und Kompromiss die einzigen Möglichkeiten, zivilisiert um Wege und Lösungen zu ringen. Dafür ist ein offener Meinungsaustausch, ein diskursiver Streit um die geeignetsten Mittel und erreichbaren Ziele die unabdingbare Voraussetzung. Um die Überlebensfragen Klimawandel, Bevölkerungswachstum, soziale Drift (in immer weniger Händen / Konzernen sammelt sich der Reichtum der Welt) überhaupt zukunfts- und konsensorientiert angehen zu können, ist ein hohes Maß an Engagement, an Wissen, an Einfühlungsvermögen und dann auch konzentrierte Durchsetzungskraft vonnöten. Wir brauchen also einen gesellschaftlichen Diskurs, eine öffentliche Diskussion, eine Einladung zu kontinuierlichen Werkstattgesprächen zwischen Politikern und gesellschaftlichen Akteuren auf der einen und der interessierten Bevölkerung auf der anderen Seite – nicht nur in Zeiten des Wahlkampfes wie jetzt vor der Europawahl, sondern strategisch im Blick auf die Zukunftsfragen unserer Gesellschaft. Globalisierung und Digitalisierung stellen die Rahmenbedingungen dar, um die drei Mega-Herausforderungen Klima, Bevölkerungswachstum und globale Verteilungsgerechtigkeit konsensual zu bewältigen.
Der heute von manchen eingeschlagene Weg in Nationalismus und Identitätsbehauptung ist als Reaktion auf die beschriebenen Probleme zwar teilweise nachvollziehbar, aber nichtsdestoweniger grundfalsch. Nicht die Isolierung und Selbstbeschränkung einzelner getrennter Gruppen kann die Lösung sein, sondern nur verstärkte Solidarität und entschlossenes Zusammenwirken. Das gilt im Kleinen, also auf örtlicher Ebene, genauso wie auf nationaler und erst recht auf internationaler Ebene. Die Konflikte durch weltweite Interessenkollisionen (Migration) und globale Machtverschiebungen (China) werden ohnehin zunehmen. Auf Gremien und Institutionen der internationalen Zusammenarbeit können wir dabei noch weniger verzichten als je zuvor. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als darum, einen Weltkrieg, einen globalen Weltenbrand zu verhindern: den Krieg um die letzten entscheidenden Ressourcen, um die ultimative Macht – und ums nackte Überleben. Der mögliche Schrecken solcher Dystopien sollte uns die Kraft und den Mut verleihen, die „Utopie“ einer friedlichen Menschenwelt in Freiheit für alle mit Leben zu erfüllen und zu teilen. Dazu kann man ruhig einmal auf die Straße gehen.
Aber dazu braucht es mehr als ein oder zwei gute Beschlüsse hochkarätiger internationaler Konferenzen – es braucht ein behutsames, aber entschiedenes Umsteuern in der gesamten Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik – national und international. Nicht mit ein paar Demonstrationen an einem Wochentag, sondern mit einer großen gesellschaftlichen Anstrengung, mit einem argumentativen Mitnehmen des Großteils der Bevölkerung, mit der Absicherung von bestehenden und der Schaffung von neuen Arbeitsplätzen, mit dem Mut zum Aufbruch und zu Innovationen, zur Technik 5.0 und Bildung 5.0 – vereint mit der Pflege der Natur und der Bewahrung der Ressourcen dieser Erde für alle können wir den Wandel in eine neue Zeit schaffen. Das Petrozän hat ausgedient.
Reinhart Gruhn
Update 29.04.2019: Dieser beiden Texte ergänzen das Thema:
„Warum ich trotz allem für Europa bin“ von dem Schweizer Regisseur Milo Rau. Und „Fleisch ist viel zu billig, sagt der Klimaforscher Johan Rockström.„
Update 03.05.2019 Der rasante Artenschwund, das Verschwinden der Artenvielfalt ist ein Aspekt, der neben dem Klimawandel gesondert berücksichtigt werden muss. Artenschwund und Klimawandel gehören zusammen, weil sie beides miteinander verzahnte Auswirkungen unserer dystopischen Lebensweise sind: lDas Mammutwerk zum Massensterben