Von der Nachkriegszeit zur Vorkriegszeit
I. Gegenwärtige Situation
Jahresrückblicke sind gerade überall zu lesen und zu sehen. Bei allen Turbulenzen und medialen Aufgeregtheiten im Jahr 2019 wird leicht übersehen, dass es doch wieder ein sehr beständiges Jahr war. Zumindest gilt das für die wirtschaftliche Entwicklung, für Lohnzuwächse, sinkende Arbeitslosigkeit. Es ist zu erwarten, dass die Verkaufsstatistik zu Weihnachten wieder beste Umsätze melden wird. Die Zahl der Bezieher von Hartz IV bzw. ALG II ist erstmals wieder unter 4 Millionen gesunken. Das ist bei aller Klage über Armutsgefährdungen denn doch ein sehr guter Wert. Dazu kommen aber noch 1,1 Millionen Menschen, die Mittel aus der Grundsicherung erhalten. Dennoch bedeutet das andererseits, dass es über 70 Millionen Bürgern in Deutschland, also rund 90 %, recht gut bis sehr gut geht. Ein unglaublicher Erfolg unserer politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systeme!
Dennoch ist ein Unbehagen in unserer Gesellschaft erkennbar geworden, das wahrscheinlich nicht so groß ist, wie es in den Medien bisweilen wirkt, aber dennoch unübersehbar. Ein deutlicher Hinweis darauf ist, dass in den östlichen Bundesländern ein Viertel der Wählerinnen *) eine Partei rechts außen gewählt hat, die in wesentlichen Teilen antidemokratische und illiberale Ziele verfolgt. Im Westen sind es mit 10 – 15 % zwar weniger, aber doch mehr, als frühere Rechtsparteien erreicht hatten. Dieser Stimmungsumschwung, eine Tendenz zu einem eher illiberalen, nationalen, intoleranten Mainstream gibt zu denken. Nationalismus, Antipluralismus, Rassismus, Antisemitismus, Abschottung und Antiglobalisierung sind offenbar wieder Optionen geworden.
Merkwürdig ist schon, dass es uns dabei so gut geht wie nie zuvor in einem deutschen Staat und innerhalb Europas. „Wir sind nur von Freunden umgeben“ stimmt zum Glück, wenn man es auf die Europäische Union bezieht. Dass es auch dort Meinungsverschiedenheiten und Interessengegensätze gibt, beispielsweise zwischen Deutschland und Frankreich oder Deutschland und Polen, ist nicht verwunderlich und eigentlich normal. Innerhalb der EU haben sich aber Staaten auf eine Rechts- und Friedensordnung verpflichtet unter Gleichen, die weltweit und historisch einmalig ist. Sie ist so selbstverständlich geworden wie die Luft zum Atmen, so dass nur noch gelegentlicher „Geruch“, also Dissonanz, auffällt. Aber noch einmal: Was Wunder, wenn 28, demnächst ohne UK 27 Staaten in einem Staatenverbund leben, der gleiches Recht für alle bietet und dessen Ziel es ist, gleiche Chancen für alle zu ermöglichen und bei Berücksichtigung unterschiedlicher Interessen in jedem Falle die Regelungen des gemeinsamen Rechts zu respektieren. Die EU ist eine beispiellose und bislang unbestritten erfolgreiche Friedensordnung auf einem Kontinent, der in den vergangenen zwei Jahrhunderten von verheerenden Kriegen, Zerstörungen und Vernichtungen geprägt war.
II. National
Es hilft aber nichts: Was allzu selbstverständlich ist, wird nicht mehr als etwas Besonderes wahrgenommen. Im Gegenteil, es fallen die politischen Unzulänglichkeiten, die bürokratischen Verfahren, die schwierige Kompromisssuche auf, die das Zusammenwirken erschweren und die manche meinen, nicht mehr hinnehmen zu wollen. „Auf einmal“ wird „Heimat“ und Nationales wieder wichtig, werden sogar Nationalismen im öffentlichen Diskurs wieder gepflegt, in benachbarten Staaten vielleicht noch ausgeprägter als (noch) bei uns in Deutschland, tritt aggressiver Rassismus aus der Ecke des Verpönten und schafft sich erst recht der Antisemitismus wieder öffentlichen Raum, der zwar nie weg war, aber sich eben nicht vorzuwagen traute. Heute traut er sich, offensiv, lautstark, gewalttätig. Ohne eine umfängliche Analyse des Antisemitismus anzustellen, – man kann mit einigem Recht sagen, dass das Vorhandensein von und der Umgang mit offenem Antisemitismus den Grad der Liberalität, Offenheit und Aufgeklärtheit einer Gesellschaft erkennen lässt. Und eben damit, mit Toleranz, Liberalität und Aufklärung, steht es heute nicht mehr zum Besten.
„Auf einmal“ hatte ich oben bereits in Anführungszeichen gesetzt. Es müsste erklärt werden. Gesellschaftliche Entwicklungen fallen ja nicht plötzlich vom Himmel, sondern kündigen sich an, haben Vorläufer und Vorgeschichten, Anlässe und Auslöser. Und dann wird „auf einmal“ etwas sichtbar, wenn ein kritischer Punkt in der Wahrnehmung und Aufmerksamkeit erreicht ist. Das scheint heute der Fall zu sein. Antidemokratische Stimmen mehren sich, verstärken und bestätigen sich gegenseitig, eine Verunglimpfung der angeblich so schwachen und lächerlichen Demokratie, die sich tatsächlich Gender-Sternchen und Gender-Klos leistet. Wenn überhaupt noch Demokratie (und nicht gleich der erhoffte starke Führer), dann ist das für viele, zum Beispiel in der AfD oder „Lega“, die „Volksdemokratie“, das heißt die absolute Herrschaft der Mehrheit oder derjenigen, die sich für die Mehrheit halten, ohne Rücksicht auf Minderheiten oder Andersgesinnte. Der Übergang von einer solchen „Tyrannei der Mehrheit“ zu einer autoritären Herrschaft einer Partei oder eines Einzelnen *) ist naheliegend und manchmal fließend, wie die Beispiele in Polen oder der Türkei zeigen. Es muss dafür keinen Putsch geben, – ein quasi „hybrider“ Wechsel der Regierungsform reicht.
Vorausgeht aber immer der Stimmungswechsel im öffentlichen Diskussionen. Genauer gesagt geht es dabei um die Diskurshoheit. Der in den letzten Jahren oft zu hörende Satz, dieses oder jenes dürfe man ja nicht sagen, weil es angeblich unterdrückt werde, ist selber zu einem Mittel des Kampfes um die Vorherrschaft in der öffentlichen Meinung geworden. Insbesondere die illiberale, nationale Rechte stilisiert sich als die unterdrückte Mehrheit, zumindest des angeblichen „Volksempfindens“, und wenn das oft genug behauptet und verbreitet wird, dann wird es immer öfter auch geglaubt (Paradebeispiel: Breitbart). Dasselbe gilt für fake news und sogenannte alternative Fakten: Oft genug behauptet, wiederholt und verbreitet, graben sie sich in das Gedächtnis ein als „echte“ Fakten (Lüge und ihre soziale Wirkung: Erinnerungsverfälschung). Darum ist auch das Mittel des framing, das heißt der Einbettung von Nachrichten in bestimmte Zusammenhänge, so wichtig geworden: Dabei geht es nicht mehr um die Erklärung des Zusammenhangs eines Geschehens, sondern um die Konstruktion eines gewünschten, oft nicht-faktischen Bezugs-Hintergrundes, um die Meinungen und Erinnerungen zu manipulieren. Verschwörungstheorien kommen noch hinzu, – die Möglichkeiten des Internet und entsprechender Portale und Chatgruppen sind dafür grenzenlos.
III. International
Ehe man nach hausgemachten Ursachen sucht, die es zweifelsohne auch gibt, lehrt ein Blick in die Weltnachrichten, dass dieser Trend zu mehr Nationalismus und Abschottung viele Länder besonders der westlichen Welt erfasst hat. Von China und Russland, denken wir vielleicht, haben wir ohnehin nichts anderes erwartet. Aber erstens ist der nationalistische Virus bereits in vielen westlichen Ländern offensichtlich geworden, man denke nur an den „Brexit“, und zweitens gelten Russland und China manch einem nicht mehr als „Parias“, als abschreckende Beispiele nahezu totalitärer Herrschaften, sondern womöglich als Zukunftsmodelle für die eigene Welt. Nicht nur in afrikanischen Staaten ist das menschenrechts-immune Vorgehen Chinas hoch willkommen. Dabei ist es besonders erstaunlich, wie die lang andauernde Entwicklung zu weltweit arbeitsteiligen und regelbasierten Marktwirtschaften (Globalisierung) sich umzukehren scheint: Zollschranken werden errichtet und weiter angedroht, Entkopplungen riesiger Märkte wie des US-amerikanischen und des chinesischen, drohen, zuerst in einigen Bereichen, die sicherheitspolitisch relevant sind (Computer und Netze). Sie werden aber ausgeweitet durch Sanktionen und Embargos (Iran, Russland, Europa) und damit zu immer häufiger eingesetzten Mitteln der Behauptung eigener Stärke und Autarkie. Der weltweite Handel hat im letzten Jahr Einbußen erlitten, auch ohne dass bisher internationale Klimamaßnahmen überhaupt beschlossen oder wirksam waren. Dass die erhöhten Unsicherheiten in der globalen Wirtschaft nicht allein auf konjunkturelle Schwankungen zurückzuführen sind, sondern Anzeichen einer tiefergehenden Krise, ist offenkundig. Automobilindustrie und Anlagenbau sind besonders betroffen, und wenn es dort stockt, dann sind in der Folge weitere Branchen und Handelszweige gefährdet. Von einer durchschlagenden Digitalisierung und ihren möglichen Auswirkungen ist noch gar nicht die Rede, – das kommt erst noch. Und bei all dem droht die bisherigen Regulierungsfähigkeit der WTO zahnlos zu werden – ihre Schiedsgerichte sind durch den Willen einer Großmacht, in diesem Falle der USA, funktionsunfähig geworden.
Ebenso offenkundig und beunruhigend ist es, dass durch machtpolitische Umbrüche und akut gewordene Systemkonfrontationen die Karten global neu gemischt werden. Das Mächtedreieck China – USA – Russland stellt sich gerade neu auf, Europa spielt da zunächst keine eigene Rolle, allenfalls als Mitbetroffene. Interessensphären werden neu ausgereizt (Arktis, Südchinesisches Meer, Mittelmeer, Nordafrika) und abgesteckt, Handelspolitik wird als Mittel der nationalen Behauptung durch wirtschaftliche Stärke eingesetzt, der Kampf um den Zugriff auf Rohstoffe wird offener und brutaler als je zuvor. In unserer Nähe betrifft es neben Syrien vor allem Libyen, das zum neuen Schlachtfeld zwischen Russland, USA, Iran und der Türkei zu werden droht. Dort geht es vor allem um Öl und Gas – Klima hin, Klima her: der Zugriff auf Quellen fossiler Energie ist immer noch vorrangiger Streitpunkt. China rüstet seine Marine massiv auf, insbesondere mit Flugzeugträgern, zur Verstärkung der weltweiten strategischen Präsenz. Russland versucht mit eigenem Flugzeugträgern und arktischen Eisbrechern seine Herrschaft über Randmeere und Festlandsockel zu behaupten und wenn möglich auszudehnen. Nicht zu vergessen: Auch die NATO-Partner rüsten inzwischen wieder stärker auf, – das hat man sogar in Deutschland mitbekommen.
Das wirklich Bedrohliche ist die offenbar zunehmende Bereitschaft zu kriegerischen Auseinandersetzungen, sollten diplomatische Möglichkeiten und Wirtschaftssanktionen nicht mehr ausreichen. 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs treten die Generationen, die noch Kriegserinnerungen haben, definitiv ab. Das „Nie wieder“ verliert seine Gültigkeit, neue Kriege offenbar ihren Schrecken – vermeintlich dank moderner Waffentechnik. Zunächst gibt es weiterhin die blutigen Stellvertreterkriege im Irak und Syrien, Afghanistan. Bisher konnte die direkte Konfrontation der Großmächte meist erfolgreich verhindert werden. Es gibt keinerlei Garantie, dass dies auch künftig gelingt. Einiges spricht dafür, dass mit einem neuen „Mitspieler“ im Macht-Monopoly, nämlich China, die Einsätze und Risiken höher werden. China ist schon im Verlauf seiner Geschichte niemals zimperlich gewesen, auch Menschenmacht (Soldaten) einzusetzen. Hongkong ist bisher ein Symbol des Protestes gegen die chinesische Übermacht – wie wird das enden? Die Ukraine hat es erlebt, was es bedeutet, dem Interessengebiet einer Großmacht, Russland, zu nahe zu rücken. Der andauernde Konflikt wird mit Absicht nicht befriedet. – Das Besorgniserregende der gegenwärtigen Entwicklung ist die Parallele zur Konstellation vor 120 Jahren. Geschichte wiederholt sich nicht, aber wie schon öfter gesehen, kann sie sich durchaus steigern und überbieten. Nationalismus, Autoritarismus, auch ein gewisser Chauvinismus beteiligter Staatsführer mit entsprechenden Eitelkeiten ist auch derzeit wieder zu beobachten. Jedenfalls gewinnt wieder rabiate Interessen- und Machtpolitik die Oberhand über Diplomatie, Verhandlungen und internationale Abkommen. Nüchtern betrachtet war die Kriegsgefahr, die auch Europa betreffen würde, auch während des Kalten Krieges nicht so groß wie in diesen Zeiten. Kriegerische Konflikte rücken auch wieder ganz nahe an Europa heran (Nordirland). Man glaube nur nicht, sich dann die Hände in Unschuld waschen zu können.
IV. Konsequenzen
Dass bei all diesen Entwicklungen auch noch die Anstrengungen zur Beherrschung des Klimawandels zunehmen müssen und nur dann erfolgreich sein können, wenn sie zu internationalen Vereinbarungen und Verträgen führen, kommt noch als weitere dringende Aufgabe hinzu. Derzeit sieht vieles danach aus, dass jeder und jede noch so viel wie möglich vom vorhandenen Kuchen ergattern möchte, koste es, was es wolle, siehe Brasilien, Indien, Australien. In solch einer Lage schreit eigentlich alles nach Kooperation, nach funktionierenden internationalen Institutionen, nach demokratischen Aushandlungsprozessen der Gutwilligen – kurz nach einer starken freiheitlichen und offenen Demokratie. Moralisierung und Technikfeindlichkeit sind absolut kontraproduktiv. „Moralismus ist die Praxis des Umschaltens vom Argument des Gegners auf das Argument der Bezweiflung seiner moralischen Integrität.“ (Rainer Hank im Verweis auf Hermann Lübbe, siehe FAZ-Artikel) Dabei brauchen wir heute so viel technische Innovation und soziale Bildungsteilhabe wie nie zuvor – und so viel klaren und nüchternen Verstand wie möglich: gegen die Feinde der Demokratie von vor allem rechts und links und gegen moralische Intoleranz und Inkompetenz zugleich (siehe das hingenommene Flüchtlingselend in Griechenland und das Ertrinken im Mittelmeer). Mögen im neuen Jahr 2020 die Verteidigerinnen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, von Liberalität und Toleranz, von Aufklärung und Sachlichkeit, die Freundinnen von freier Wissenschaft und offenen Kulturen über die Grenzen hinweg zusammenstehen, Verbindungen knüpfen und stark bleiben! **)
*) Ich bemühe mich, das generische Femininum, welches das Maskulinum einschließt, zu gebrauchen anstelle von Gender-Sternchen. Wo es sich bei einer Verallgemeinerung tatsächlich fast nur um Männer handelt (zum Beispiel ‚Vergewaltiger‘), bleibt das Maskulinum bestehen.
**) siehe auch die historische Erörterung des Themas „Nationalismus“ in diesem Blog-Beitrag.
.art