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Social Media – eine Pseudowelt?

Die derzeitige Bedeutung der Sozialen Medien wird weit überschätzt. Der Informationsgehalt von Weblogs und Diskussions-Plattformen ist oft gering und stellt überwiegend „Meinung“ dar. „Wissen“ wird schon alles genannt, was ungeprüft aus zweiter Hand übernommen wird. Die Verbindung mit der tatsächlichen Welt darf nicht verloren gehen, wenn die Kommunikation im Internet nicht in eine Pseudowelt abheben soll.

Social media ist in aller Munde – liest man, denkt man. Zumindest wird in den vergangenen Monaten hierzulande sehr viel öfter darüber geschrieben und diskutiert als sagen wir mal im Jahr 2010. Dass die Rebellionen in den nordafrikanischen Staaten eine neue Art Revolution geboren haben, nämlich die Twitter-Revolution, dass soziale Medien wie Facebook und Twitter die Welt schneller verändern, als es das Fernsehen je konnte, dass mit den neuen Kommunikationsstrukturen die Institutionen der alten „analogen“ Welt völlig überrollt und überflüssig würden, ja dass eine neue Form direkt partizipierender Demokratie möglich und teilweise schon wirklich würde, siehe die „Piraten“ mit ihrer „liquid democracy“, die alle Mängel der „abgewirtschafteten“ parlamentarischen Formen und Parteien beheben werde, dies alles gehört zu den weithin verbreiteten Ansichten „im Netz“: Jeder kann mit machen, „end to end“ kommunizieren anstatt auf die Vermittlung von eindimensionalen Medien und papiernen Stimmzetteln angewiesen zu sein. Wissen strukturiere sich neu, die „Cloud“ ermögliche nun die instant Verfügbarkeit aller nur irgendwie und irgendwo erwünschten Informationen, und dies alles gehe so schnell vonstatten, dass wir den epochalen Umbruch kaum richtig merkten, er aber faktisch vorhanden sei. „Ich kann mir ehrlich gar nicht vorstellen, wie die Wissenschaft in ihren überfrachteten Strukturen da je auf einen Nenner kommen will. Die Welt ist viel zu schnell geworden für Doktorarbeiten.“ So heißt es sehr typisch in einem Blog.

Überhaupt die Weblogs. Obwohl auch hier vereinzelt darüber räsonniert wird, sie entsprächen von ihrer Struktur her noch viel zu sehr den „alten“ unidirektional verlaufenden Kommunikationen und seien daher den Threads in Medien wie Google+ unterlegen bzw. dadurch bald ablösbar, so repräsentieren Blogs doch bis heute neben den nicht zu unterschätzenden Themenforen überwiegend die Art der Meinungsbildung und -verbreitung im Internet. Blogs sind die Zeitung des „kleinen Mannes“, heißt es, wobei auf einzelne Beispiele verwiesen wird, wo Blogs tatsächlich an den Umfang und die Qualität von klassischen Medien heran reichen wie z.B. die „Huffington Post„, – wobei gerade dieses Beispiel zeigt, wie ein Blog zu einem klassischen Online-Medium und News-Portal mutiert ist (sehr interessant ist die Studie von Lisa Sonnabend:  Das Phänomen Weblogs – Beginn einer Medienrevolution?). Ohne Zweifel, es gibt eine Vielzahl interessanter und inhaltlich qualifizierter Blogs, insbesondere Themen-Blogs. Wirkliche „Perlen“ findet man aber wie so oft eher zufällig; es sind nicht unbedingt diejenigen Blogs, die das beste Ranking haben.

Und damit komme ich auch schon zur anderen Seite der Medaille. Es gibt eine unüberschaubare Menge an Blogs allein in deutscher Sprache, aber wenn man einige davon zufällig auswählt und eine Zeit lang verfolgt, dann fällt einem doch auf, wie wenig Information sie wirklich enthalten. Das Meiste ist eben doch Meinung, persönliche Ansicht, sind Gedankenfetzen, Ideen, Einfälle, aber ohne weitere Begründung oder auch später erfolgende gedankliche Ausformulierung. „Denken per Blog heißt: release early, release often. Man kann die Vorgänge nur iterativ begleiten, immer wieder zur Diskussion stellen, korrigieren, umdenken, denn die Ereignisse werfen schon morgen wieder die eine oder andere Annahme um.“ (M. Seemann alias mpr0) Genau das aber ist kein Nachdenken, sondern allenfalls ein oft recht wirres Assoziieren. Spontane Einfälle ersetzen eben nicht Denken, sondern nur Augenblicks-Empfindungen oder situativ entsprungene Ansichten. Die dadurch entstehende Information hat einen sehr geringen und flüchtigen Gehalt. „Iterativ“ heißt eben auch: kommt und geht schnell. Mit Wissen und seinem Erwerb und seiner Verarbeitung hat das wenig zu tun. Ich gebe zu: Wissenserwerb ist mühsam, nicht so einfach spontan und nur kreativ zu machen! Hier aber wird „Nachdenken“ zur naiven Mitmach-Aktion. Eben dies spiegeln viele Blogs und erst recht „Diskurse“ auf Netzplattformen wie Google+. Die Anführungszeichen deswegen, weil ich dort das, was man bisher unter Diskurs (= ein ernsthafter, gedankliche anstrengender Austausch von begründeten Argumenten) versteht, so gut wie noch nie gefunden  habe.

Das angeblich jetzt überall frei verfügbare Wissen ist eine weitere Fiktion. Was ist denn dieses Wissen, das zum Beispiel bei Wikipedia (nutze ich viel und gern zum ersten Überblick) abrufen kann? Es ist in der Regel „zweiter Aufguss“, d.h. Darstellung vom Wissen und wissenschaftlich begründeten Erkenntnissen anderer. Dazu ist ein Lexikon ja auch da. Bei Themen-Portalen und Themen-Blogs ist das genau so, oft noch stärker: Da wird woanders erworbenes Wissen meist vereinfacht online dargestellt. Wissen selbst aber gewinnt man nur durch intensives Studium von Quellen, von Originaltexten oder aus Veröffentlichung von experimentellen Verfahren und Ergebnissen. Diese sind wiederum so gut wie nie „frei verfügbar“. Außerdem würden sie nur von sehr wenigen verstanden. Das Internet ist also kein eigentlicher Wissensspeicher, sondern ein weites Feld populärwissenschaftlicher Vereinfachung – bestenfalls. Denn meist findet sich dort neben allerlei Abstrusem (jedem Tierchen sein Pläsierchen) persönliche Meinung und eigene Ansichten. Das ist völlig ok und mag auch zur eigenen Meinungsbildung beitragen. Aber es ist kein grundlegendes Wissen, es ersetzt schon gar nicht die eigene Lektüre und gedankliche Aufarbeitung eines bestimmten Themas. Auch dies macht Mühe und braucht Zeit – beides ist aber ein Luxus, den sich das schnelllebige Netz mit seinen „Netizens“ nicht gönnt. Statt dessen wird viel „Unterhaltung“ geboten, und wenn sie gut und kreativ ist, dann ist das ja auch etwas Positives.

Ich bleibe noch einmal kurz bei der These, das Netz ersetze jetzt schon traditionelle Zeitungen und Nachrichtenmedien wie Radio oder Fernsehen. Abgesehen davon, dass ich das zahlenmäßig überhaupt nicht realisieren kann (siehe unten), möchte ich aus eigenen Erfahrung auf Zeitungen und auf die Kompetenz von Journalisten und Redakteuren keinesfalls verzichten. Die Zeitung muss nicht auf Papier sein, lieber sind mir Online-Ausgaben, egal ob kostenfrei oder im Abo (diese sollten aber, wenn sie den redaktionellen Volltext bieten, deutlich preisgünstiger sein als bisher). Kein Blog oder mir bekanntes News-Portal, das nicht mit der Professionalität einer Zeitungsredaktion ausgestattet ist, kommt auch nur annähernd an die Qualität der Informationen letzterer heran. Twitter mag sehr viel schneller und manchmal aktueller sein, aber erstens ist Schnelligkeit nicht alles, was ich erwarte, und zweitens sind auch Online-Redaktionen lernfähig, wie sich zeigt. Gründlichkeit der Recherche, eigene unabhängige Beobachter und Reporter vor Ort (Syrien!), vor allem dann Hintergrundinformationen und davon unterschieden bewertende Analyse des Geschehens sind wesentliche Teile von gehaltvollen Newsmedien. Ich jedenfalls möchte darauf nicht verzichten. Ich möchte möglichst viele Fakten zu einem mich interessierenden Thema erfahren und Gründe, die zu meiner Meinungsbildung führen, nachprüfen können. Nur dann ist ein eigener, selbstbewusster und kritischer Umgang mit Nachrichten möglich. Sonst sind es halt nur schnelle „news“, deren Meldung als solche irgend eine Wirklichkeit „reflektieren“, die aber erstens schnell vergessen wird, zweitens mit den tatsächlichen Gegebenheiten nicht abgeglichen werden kann und soll. Dann stimmt McLuhens These „the medium is the message“ – aber diese message ist eigentlich ohne Informationsgehalt. Darauf kann man gerne verzichten. Eben so wie ich auf 95% der Tweets verzichten kann, sie haben null Info. Der Spaßfaktor kann hoch sein, aber das ist ein anderes Bewertungskriterium. Begründete Meinung und sachlich fundierte Diskussion sind in Blogs und Foren auch selten zu finden. Deswegen die vielen Blogs zu durchforsten ist, als suche man die Nadel im Heuhaufen. Auch darauf kann ich gerne verzichten. Wie schrieb jüngst jemand bei Twitter? „Mit Wissenschaft hat es Social Media nicht so.“

Schlussendlich: Um wen geht es bei den Netznutzern, den Schreibern und Lesern von Blogs und Twitter und G+ eigentlich? (Facebook lasse ich hier unberücksichtigt, weil das aus meiner Sicht eine eigene Kategorie von Medium zur Selbstdarstellung und sozialen Verknüpfung der eigenen Person ist.) Es ist trotz beeindruckender Zuwächse doch nur eine noch marginale Minderheit in unserem Land. Die Google+ Nutzerzahl in Deutschland liegt bei unter 1 Million laut nicht überprüfbarer Angabe im Googleplusblog, wobei unklar ist, wieviele davon regelmäßig aktiv sind. Bei Twitter sind es nur 500.000 Accounts laut Socialmedia-Blog. Auch dies nur als ungefährer Anhaltspunkt, da die Zahlen nicht verifizierbar sind bzw. die Account-Angabe noch wenig über die tatsächliche Nutzung aussagt. Dafür wären genaue demoskopische Untersuchungen nötig; mir ist dazu noch keine bekannt, allenfalls zur Internetnutzung im Allgemeinen. Diese Größenordnungen der User von Social Media bei uns stellen also im Vergleich zur Reichweite von Radio, TV und sogar Tageszeitungen (48 Millionen Leser täglich laut die-zeitungen.de) nur einen Bruchteil dar. Bevor man da von tiefgreifenden Veränderungen oder „Internet-Revolution“ sprechen kann, muss also noch sehr viel Wasser den Rhein, die Elbe, die Oder und die Donau hinunter fließen.

Fazit: Die Bedeutung von Sozialen Medien wird derzeit weit überschätzt, am meisten von den Nutzern derselben, was ja kein Wunder ist. Dass sich da etwas tut und langfristig verändert, steht außer Frage. Aber in welche Richtung die Entwicklung geht und was davon wirklich wünschenswert und positiv ist, ist noch offen und außerdem natürlich Ansichtssache. Jedenfalls wäre es schon nicht schlecht, wenn sich die selbsternannten Gurus des Internet-Zeitalters etwas mehr Bescheidenheit angewöhnen würden und vor allen Dingen eines tun, was beim schnellen Texteingeben und Absenden fast immer zu kurz kommt: Erst nachzudenken und dann zu schreiben. Das Internet wäre um sehr viel überflüssigen Mist ärmer. Die Verbindung mit der tatsächlichen Welt darf nicht verloren gehen, wenn die Kommunikation im Internet nicht in eine Pseudowelt abheben soll.