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Demokratie – Geschichte

Formen des Zerfalls im antiken Athen

Im 5. Jahrhundert vor Christus erlebte Athen als Polis eine Blütezeit. Sie begann mit dem Sieg über die Perser bei Marathon 490 vC und in der Seeschlacht von Salamis 480 vC. Der attische Seebund von 478 vC sicherte trotz manchem Auf und Ab die Herrschaft Athens über die Ägäis und die Ionische Küste für die nächsten siebzig Jahre. Innenpolitisch wurde es die Zeit eines bis dahin weltgeschichtlich einmaligen Experiments: der Einführung der Demokratie als Verfassung der Polis. Einige andere Stadtstaaten in Griechenland folgten dem Beispiel Athens, das aber Ursprung und Referenzpunkt dieser Entwicklung blieb. Einige überragende Personen prägten diese Epoche: Themistokles, Kleisthenes und vor allem Perikles.

Es begann mit dem Sturz des Areopags, des Adelsrates, zu dem Ephialtes 462 vC den Anlass gegeben hatte; er wurde bald darauf ermordet. Die Neuordnung der Verfassung in Athen antwortete unter anderem auf die Bedeutung der Theten (Unterklasse der Grundbesitzlosen), die seit Salamis als Ruderer den Kern der attischen Flotte darstellten. Die treibende Kraft wurde Perikles. Mit der Einrichtung des (erlosten) Rates der 500, der befristet gewählten Archonten, der Volksgerichte (Geschworenengerichte) und der Volksversammlung als oberstem Entscheidungsorgan wurde ein neues Bürgerschaftsgesetz beschlossen (451 vC), durch das die männlichen Bürger Athens definiert (Zensusklassen) und mit aktivem und passivem Wahlrecht ausgestattet wurden. ‚Zugereiste‘ (Metöken), Frauen und Sklaven blieben ausgeschlossen (siehe Artikel „attische Demokratie„). Ab 443 vC war Perikles die unumstrittene Führerfigur, der, so der Geschichtsschreiber Thukydides, die athenische Demokratie „wie ein König“ leitete und außen- wie innenpolitisch anführte. Ihn zeichnete offenbar ein ausgleichendes Temperament und eine offene geistige und weitsichtige politische Einstellung aus. Perikles blieb bis zum Ausbruch des Peloponnesischen Krieges 431 vC dominant und verstarb 429 vC.

Im wechselvollen und in der damaligen Welt weit ausgreifenden Peloponnesichen Krieg (431 – 404 vC) versuchte Athen, den von ihm gegen die Perser gegründeten und beherrschten attischen Seebund durch eine Ausweitung seiner Landmacht zu ergänzen. Ziele der Eroberungen lagen in Sizilien (Syrakus) und auf der Peloponnes mit Sparta an der Spitze. Die Auseinandersetzung mit seinem alten Rivalen Sparta geriet auch zur Konkurrenz der unterschiedlichen Systeme, nämlich Spartas Aristokratie / Oligarchie mit der Demokratie der Athener. Athen unterlag schließlich auf ganzer Linie, verlor 404 vC die Flotte, den Seebund und die Macht außerhalb Attikas. Vorher stand allerdings die Demokratie als seine maßgebliche Polisverfassung auf dem Spiel, und dieses Kapitel der Geschichte Athens ist erstaunlich aktuell: Demokratien verschwinden nicht quasi naturgegeben, sondern werden, so wie sie unter bestimmten Umständen von Menschen eingerichtet wurden, unter anderen Umständen auch wieder abgeschafft. Dies „Lehrstück“ wird von Thukydides als solches berichtet, und ich halte mich hier an die beeindruckende Darstellung der Geschichte Athens von Christian Meier, Athen. Ein Neubeginn der Weltgeschichte, 1993. Heutige Entwicklungen waren Meier also bei Abfassung seines Werkes nicht bekannt – und Thukydides (gestorben zwischen 399 und 396 vC) in seinem beispielgebenden Werk über den Peloponnesischen Krieg erst recht nicht.

Akropolis, Athen (c) wikimedia

Im Jahr 412/411 vC hatten sich die Spartaner mit den Persern gegen Athen verbündet; der Druck wuchs, und Athen geriet mit dem Rücken zur Wand. In dieser kritischen Situation, nach einem (mit Unterbrechungen) bereits zwanzigjährigen wechselvollen und verlustreichen Krieg gab es in Athen einen Umsturzversuch zugunsten der Oligarchie. Dabei spielte auch der schillernde Alkibiades eine Rolle. Der Umsturz dauerte vier Monate und war am Ende nicht erfolgreich. 410 vC wurde der aufständische Rat der 400 abgesetzt und die Demokratie in Athen wiederhergestellt. Soweit zum Ergebnis. Der Verlauf aber ist bemerkenswert. Meier schreibt:

Das Haupt der Verschwörer von Samos, Peisandros aus Acharnai – sein Vatersname ist interessanterweise nicht überliefert – und seine Mitgesandten stellten vor der Volksversammlung dar, daß sich eine Möglichkeit zum Sieg eröffne, da man Alkibiades heimholen und ein Bündnis mit den Persern schließen könne. Voraussetzung sei nur, daß man die Demokratie nicht weiter wie bisher handhabe. So vorsichtig drückten sie sich aus, immerhin konnten sie dies öffentlich schon erklären.
Als sich heftiger Widerspruch erhob, rief Peisandros jeden Gegenredner nochmals auf die Tribüne und fragte ihn, ob er einen Weg zur Rettung der Stadt wisse. Wenn sie die Frage verneinten, antwortete er jedesmal, daß es offenbar keine andere Möglichkeit gäbe, als das Polisleben »vernünftiger zu regeln und die Ämter mehr auf Wenige zu beschränken«. Wichtig sei jetzt vor allem das Vertrauen des Königs und Alkibiades‘ Heimkehr. An die Rettung sei zu denken, nicht an die Verfassung; später könne ja über alles neu entschieden werden.
Zunächst wurde aber noch nichts beschlossen, außer daß eine Gesandtschaft mit Peisandros an Alkibiades und Tissaphernes [Perserkönig] abgefertigt wurde.

Meier, Athen, S. 648

Es muß allen klar gewesen sein, daß man die Macht nicht einfach an sich reißen konnte, wie das sonst vielfach in Griechenstädten geschah; indem man etwa bestimmte Stellen der Stadt besetzte, Gegner festnahm oder tötete, eventuell für Freunde, die von außen kamen (Verbannte zum Beispiel oder auch ein fremdes Heer) die Tore öffnete. Der Umsturz mußte vielmehr legal vonstatten gehen, nach gehöriger Einschüchterung und Terror. – Die Verhandlungen mit Thissaphernes ergaben nichts. Denn der stellte von Alkibiades beraten, Forderungen auf, auf die die Athener beim besten Willen nicht eingehen konnten. Sie fühlten sich verraten, setzten auch keine Hoffnungen mehr auf Alkibiades. Aber den Umsturz betrieben sie weiter.

Meier, a.a.O. S. 649

Volksversammlung und Rat der Fünfhundert setzte man gehörig unter Druck. Sie taten zwar weiterhin, wozu sie der geltenden Ordnung nach da waren. Aber die gesamte Tagesordnung wurde von den Oligarchen bestimmt; ihre Leute waren die einzigen, die sich zu Wort meldeten. Die andern wagten es nicht mehr, vielfach aus Angst, denn sie überschätzten, wie alle anderen die Zahl der Verschworenen. Sie schlossen aus der Bestimmtheit ihres Auftretens und der Nachgiebigkeit vieler ihnen gegenüber auf deren Macht. Dabei waren sie im Grunde nur geschickt und allerdings – völlig skrupellos. Sofern sich jemand noch gegen ihren Willen äußerte, fand man ihn wenig später »auf irgendeine geeignete Weise« beseitigt. Nach den Tätern wurde nicht gefahndet, selbst wenn dringender Verdacht bestand. Jeder war froh, wenn ihm nichts passierte. Die Angst ging um. Keiner äußerte seine Empörung, weil keinem recht zu trauen war. In der Öffentlichkeit sagte man nichts, weil man in der großen Stadt viele nicht kannte. Aber auch im Privaten hielt man sich zurück, denn manch einer, von dem man es nicht gedacht hätte, setzte sich plötzlich für die Oligarchie ein.

ebd.

So gelang es einem relativ kleinen Kreis von Bürgern, die ganze Stadt zutiefst zu verunsicher».. Nach Peisandros‘ Rückkehr wählte die Volksversammlung, was sie schon oft getan hatte, eine Kommission. Ihr Auftrag aber war, Vorschläge auszuarbeiten, wie die Stadt am besten regiert wurde. Die Volksversammlung, auf der sie referieren sollten, wurde eigenartigerweise nicht auf die Pnyx [traditioneller Versammlungsort innerhalb der Stadt], sondern in das Poseidonheiligtum in Kolonos einberufen, anderthalb Wegstunden vor der Stadt. Der kleine Bezirk bot nicht viel Platz. Er mußte wohl auch von Bewaffneten geschützt werden. – Die zehn Männer beantragten nur, jedermann solle frei jeden Antrag stellen dürfen; wer einen Antragsteller wegen Gesetzwidrigkeit vor Gericht ziehe, solle mit dem Tode bestraft werden. Als das angenommen war, waren alle Sicherungen der Demokratie zerbrochen.

Meier, a.a.O. S. 650

Das liest sich mit einem gewissen Schaudern, allzu leicht fallen einem Beispiele aus der jüngeren Geschichte und Gegenwart ein. Zumindest hat das Vorgehen, wie es damals ‚erfunden‘ wurde, Methode, die sich noch oftmals in der Geschichte wiederholte. Die an einem (aristokratischen) Umsturz zu ihren Gunsten Interessierten nutzen eine Situation erheblicher außenpolitischer Verunsicherung und Gefährdung, plädierten für ‚Notstandsgesetze‘ gewissermaßen. Man ging von der Legalität aus, „an die Rettung sei zu denken, nicht an die Verfassung, später könne ja alles neu entschieden werden“. Wenn die Macht allerdings erst einmal verloren war, konnte auch später nichts mehr geändert werden, so hoffte man. Das Ziel der Machtübernahme rechtfertigte politische Winkelzüge und dann offenbar auch direkten Terror, Mord und Denunzierung. Thukydides lässt an dem harschen Vorgehen keinen Zweifel. Selbst als das eigentlich vorrangig gesetzte außenpolitische Ziel (eine Vereinbarung mit dem Perserkönig) nicht erreicht wurde, hielt man an dem Umsturz fest. Jetzt musste die neue Ordnung der Wenigen nur noch von einer Volksversammlung bestätigt und damit legalisiert werden. Auch hier griff man auf ein später bewährtes Rezept zurück: Wahl eines neuen Ortes, der schwerer zu erreichen, aber umso besser auch militärisch zu sichern war. Die Einschüchterung war perfekt – und die Beschlüsse wunschgemäß: Mit der Strafbewehrung (Todesstrafe) der Kritiker im Falle, Klage zu erheben wegen Verfassungsbruch, war die Selbstentmachtung der Volksversammlung komplett. Die Demokratie schien demokratisch beseitigt durch eine legalistische Machtergreifung.

In diesem konkreten Fall war der Umsturz nicht zuletzt deswegen von kurzer Dauer, weil der vorhergesagte und erwartete Erfolg im Krieg ausblieb und sich die an der ionischen Küste befindlichen Flottenteile für die Erhaltung der Demokratie einsetzten: Die Ruderer sahen nicht ein, nunmehr wieder ohne Stimme und Recht zu sein. Durch Rückkehr ihrer Anführer konnte dann zur Jahreswende 410 vC die demokratische Verfassung wiederhergestellt werden. Aber ein Keim war gelegt, die Zerbrechlichkeit der Demokratie war deutlich geworden. Sie wurde geschaffen und dann gegen ihre Feinde erhalten durch selbstbewusste Verteidiger, die dabei durchaus auch an ihre eigenen Interessen dachten. Wenn sich die „untere“ Mehrheit eines Verfassungsvolkes auf ihre Interessen gegen diejenigen der einflussreichen „Oberen“ besinnt und sie massiv geltend macht, hat auch ein Putsch keine Chance. Aber nur dann.

Es lässt sich noch anderes aus dieser Geschichte lernen, zum Beispiel die Rolle von Versprechungen, Falschinformation, Denunziation, Hinterlist und Skrupellosigkeit um der eigenen Ziele willen. Dabei waren die social media damals noch ganz analog auf dem Markt, der Agora, zu finden. Es war ja auch nicht der erste „Putsch“, – Machtkämpfe auf dem Hintergrund militärischer Erfolge oder Misserfolge gab es schon immer und überall. Lehrreich wird diese Episode, weil hier der erste Umsturzversuch gegen ein demokratisch verfasstes Gemeinwesen stattgefunden hat, – der erste, der durch die Geschichtsschreibung bekannt geworden und dokumentiert ist. Dabei waren schon den klugen Zeitgenossen der Athener durchaus die Mängel ihrer Demokratie bewusst – Thukydides war eher Anhänger einer gemäßigten Oligarchie. Aber man hatte es ja auch mit „direkter“ Demokratie zu tun, ohne weitere Sicherungen. Die Volksversammlung in Athen hat im Verlauf des Peloponnesischen Krieges die widersprüchlichsten Beschlüsse gefasst: Was heute beschlossen wurde, konnte morgen umgestoßen werden, wer heute bejubelt wurde, konnte morgen verbannt und gar zum Tode verurteilt werden – und das ist öfters geschehen. Dass die Volksmenge beeinflussbar war und mehr ihren Hoffnungen und Wünschen folgte als einer nüchternen rationalen Abwägung, war vielen in Athen schon klar. Dennoch war es das erste Mal, dass sich ein Gemeinwesen insgesamt für sich selbst und die „politischen Dinge“ (politeia) verantwortlich machte und verantwortlich wusste. Das wird von Christian Meier zu Recht als ein „Neubeginn der Weltgeschichte“ beurteilt. Umso mehr sind die ersten Erfahrungen, die man mit der Demokratie machte, gerade auch unter außenpolitischem Druck, bemerkenswert.

Diese erste Demokratie in Europa wurde, wie beschrieben, hart bedrängt – als Antwort auf den ausgeprägten Expansionismus Athens, aber sie hat sich damals doch beispielhaft durchgesetzt und bewährt. Es ist erstaunlich, wieweit auch das „kulturelle“ Leben an den Entscheidungen, Irrungen und Wirrungen des Demos Anteil nahm, es gewissermaßen mitgestaltete. In dem Jahr des Umsturzes wurde inmitten der Stadt die Komödie „Lysistrate“ des Aristophanes aufgeführt, ein inzwischen klassisches Theaterstück, das die ‚Politisierung‘ der Frauen zeigt und ihren Protest gegen die sinnlose und erfolglose Kriegspolitik der Männer: Die Frauen sollten sich den Männern solange verweigern, bis die Griechenstädte wieder Frieden schlössen. Zumindest im Theater funktionierte das und zeigt, wie die Stadt in der Krise insgesamt in Bewegung und Erregung versetzt wurde und an den ‚politischen‘ Entwicklungen teilnahm. Meier weiß übrigens in beeindruckender Weise, Bauten, Kunstwerke und Dramen als Ausdruck der politischen Verhältnisse in der Stadt während des „perikleischen Zeitalters“ in seine Darstellung einzubeziehen.

Unseren westlichen Demokratien heute steht offenbar die Bewährung unter äußerem und inneren Druck allererst noch bevor, so scheint es. Die Luft wird für freiheitliche, pluralistisch und rechtsstaatlich denkende Demokraten dünner. Demagogen und Populisten (auch die kannte Athen bereits in Gestalt der Sophisten, zu denen man auch Sokrates rechnete und schließlich verurteilte!) mit ihren skrupellosen Tricks und fake news feiern fröhliche Urstände. Hoffentlich erweisen wir uns ebenso standhaft und phantasievoll wie damals in einem bestimmten Zeitraum die Athener! Es gibt von ihnen in der Tat eine Menge zu lernen.

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