Lehren der Geschichte
Populismus erscheint heute als etwas spezifisch Modernes und in der gegenwärtigen Gesellschaft Bedrohliches. Zumindest der Begriff ist in allen Medien präsent und dient nicht selten weniger zur Klärung eines Sachverhalts als zur Disqualifizierung des politischen Gegners. Populär möchte natürlich jede Politikerin sein, aber eben kein Populist. Was ist also das Besondere, Unbequeme, Bedrohliche am Populismus? Inwiefern ist er vielleicht ein typisches Kennzeichen für machtpolitische Auseinandersetzungen in einer polarisierten Gesellschaft, in einer sich polarisierenden Welt?
Dabei ist Populismus keine neue Erscheinung. Meist wird er mit der Neuzeit und ihrer modernen arbeitsteiligen Gesellschaft in Verbindung gebracht. Besonders die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte gelten als besonderer Nährboden des Populismus. So schreibt Gerald Braunberger in der FAZ:
Natürlich besitzt der Populismus, der keine neue Erscheinung ist, sondern mindestens bis in das 19. Jahrhundert zurückverfolgt werden kann, nicht nur ökonomische Ursachen. Aber er besitzt eben auch ökonomische Ursachen. (FAZ 05.03.2020)
https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/die-folgen-der-globalisierung-wenn-hass-regiert-16658020.html
Der Bonner Ökonom Moritz Schularick hat gezeigt, wie in der Geschichte schon mehrfach vor allem der Rechtspopulismus von schweren Finanzkrisen profitiert hat, die nicht nur das Vertrauen in die Marktwirtschaft, sondern auch das Vertrauen in die etablierten Parteien erschütterten. – Die Deindustrialisierung und das Wachstum der Dienstleistungsbranche gehen nicht nur mit einem bislang schwachen Wachstum der Produktivität einher, sondern auch mit signifikanten politischen Verwerfungen. … Globalisierung und technischer Fortschritt sind langfristig wirkende Kräfte, die wohl noch lange den Populismus nähren werden.
ebd.
Aber die Unbekümmertheit, mit der die multilaterale Ordnung der Weltwirtschaft beschädigt wird, und die Provinzialität, mit der urbane, häufig sehr gut ausgebildete und mobile Leistungseliten als global denkende vermeintliche Feinde des vermeintlich wahren Volkes stigmatisiert werden, lässt erahnen, dass eine nach vorne weisende, die Chancen der Freiheit, der Offenheit und der Innovationsfreude erkennende Wirtschaftspolitik nicht das Kennzeichen des Populismus werden dürfte.
ebd.
Wikipedia definiert „Populismus“ wie nachstehend zitiert – und lässt ihn in der Mitte des 19. Jahrhunderts beginnen.
Dem Begriff Populismus (von lateinischpopulus ‚Volk‘) werden von Sozialwissenschaftlern mehrere Attribute zugeordnet. Charakteristisch ist eine mit politischen Absichten verbundene, auf Volksstimmungen gerichtete Themenwahl und Rhetorik. Dabei geht es einerseits um die Erzeugung bestimmter Stimmungen, andererseits um die Ausnutzung und Verstärkung vorhandener Stimmungslagen zu eigenen politischen Zwecken. Oft zeigt sich Populismus auch in einem spezifischen Politikstil und dient als Strategie zum Machterwerb.
https://de.wikipedia.org/wiki/Populismus
Tatsächlich ist der Populismus so alt wie die abendländische politische Kultur – und ist geradezu ‚erfunden‘ worden von der römischen Republik. Man könnte die Volksbewegung der Gracchen im 2. Jahrhundert vC als Geburtsstunde des Populismus bezeichnen. Sie vertraten als Volkstribunen die unteren Klassen der römischen Stadtgesellschaft, die Popularen, gegen die herrschenden Senatskreise, die Optimaten. Dieser institutionelle Populismus durch die Macht der Volkstribunen blieb während der gesamten Dauer der römischen Republik bestehen und zeigte wiederholt auch gewalttätige Auswüchse. Die römische Plebs, das Stadtvolk, wurde von den streitenden Senatsparteien immer wieder als Machtfaktor eingesetzt und entsprechend instrumentalisiert, denn seine Anführer, die Volkstribunen, gehörten meist selber zur alten römischen Nobilität.
Besonders während des Niedergangs der Republik und dem Aufstieg Caesars zum römischen Alleinherrscher spielte der Populismus eine entscheidende Rolle. Liest man die anschaulichen Darstellungen der Rolle Caesars in diesem Machtkampf, fallen einem die Parallelen zur Gegenwart ins Auge. Geschichte wiederholt sich nicht, aber Machtstrukturen und der Einsatz von Verführungen und Versprechungen, Beschimpfungen und Verdrehungen sind offenbar ein allzeit bewährtes Mittel und in der Sozialität des Menschen äußerst stabil. Ich beziehe mich im Folgenden auf das auch heute noch sehr lesenswerte, sachlich fundierte Buch von Christian Meier, Caesar, 1982; 2018. Es ist mehr als nur der Beitrag eines bedeutenden Althistorikers, sondern eine politisch – kulturelle Rückschau und aktuelle Vergegenwärtigung der Entstehung des größten abendländischen Imperiums, des Imperium Romanum, konzentriert auf die Besonderheit der Person Gaius Julius Caesars. Ich greife hier Textstellen heraus, die sich auf den damaligen Populismus und die Machtkämpfe in der späten römischen Republik (59 – 49 vC) beziehen.
Bald nach der Mitte des Jahres [59 vC] war Caesar politisch so sehr in die Enge geraten, daß er auf einen höchst fragwürdigen Weg verfiel, um sich daraus zu befreien. Lucius Vettius, ein notorischer Denunziant, spann in seinem Auftrag eine Intrige. Er schlich sich in das Vertrauen von Caesars leidenschaftlichem jungen Opponenten Curio ein und eröffnete ihm eines Tages, er wolle mit seinen Sklaven ein Attentat auf Pompeius verüben. Offenbar hatte er wirklich vor, sich bei solch einem Angriff ergreifen zu lassen. Doch Curio meldete es seinem Vater, und der warnte Pompeius. Die Sache kam vor den Senat. Vettius wurde vorgeladen und beschuldigte einen ganzen Kreis von jungen Adligen, ein Komplott angestiftet zu haben. Unter anderem Servilias Sohn Brutus. Bibulus habe ihm durch seinen Privatsekretär einen Dolch gesandt. Das war alles recht unwahrscheinlich, zumal Bibulus selbst Pompeius vor einem Anschlag gewarnt hatte. Einige Aussagen waren auch offenkundig falsch und widersprüchlich. Der Senat ließ Vettius deswegen verhaften. Tags darauf führte Caesar ihn dem Volk vor, damit er ihm ausführlich berichte. Nun nannte er zum Teil andere Namen. Brutus, den er zunächst stark belastet hatte, überging er. Cicero kommentiert: »Es lag eben eine Nacht dazwischen, in der sich jemand für ihn verwandt hatte.« Er befürchtete eine ganze Reihe von politischen Prozessen. Allein, die Sache war so fadenscheinig, daß Caesar sie aufgab und Vettius im Gefängnis umbringen ließ – natürlich war es Selbstmord.
Meier, Caesar, S. 274f.
Auf eine uns nicht bekannte Weise hat Caesar es dann im Oktober geschafft, bei den Wahlen zum Consulat zwei befreundete Kandidaten durchzusetzen, Lucius Calpurnius Piso, seinen Schwiegervater, und Aulus Gabinius, Pompeius‘ alten Gefolgsmann. Damit war ein senatus consultum ultimum [Staatsnotstand] gegen ihn nach Beendigung seines Consulats schon so gut wie ausgeschlossen. Wer nämlich hätte es ausführen sollen? Clodius war schon vorher zum Volkstribunen gewählt worden. Bei den Praetorwahlen aber hatten zwei sehr engagierte Gegner Caesars Erfolg, Lucius Dominus Ahenobarbus und Gaius Memmius. Vermutlich hat Caesar damals neuerdings alle Hebel politischer Pression in Bewegung gesetzt. Dafür spricht, daß gleich nachher keiner der Praetoren bereit war, eine Anklage gegen Gabinius wegen Wahlbestechung anzunehmen. Als der Ankläger in einer Volksversammlung Pompeius einen »unbestallten Dictator« nannte, wäre er fast gelyncht worden.
Nun tat sich Gabinius hervor, indem er erklärte, endlich müsse die Hinrichtung der Catilinarier geahndet werden. Man solle nicht glauben, der Senat habe noch etwas zu sagen. Piso zog sich darauf zurück, daß er kein tapferer Mann sei. Cicero möge weichen; man werde ihn schon bald zurückholen. Das Gesetz stellte, für sich genommen, keine neue Gefahr für Cicero dar. Nur ein Gericht konnte ihn verurteilen. Doch er legte sofort Trauerkleidung an und veranlaßte Senatoren und Ritter, für ihn einzutreten. Clodius‘ Banden verfolgten ihn, sie pöbelten ihn an und warfen auf ihn mit Dreck und Steinen; und der Consul Gabinius bedrohte die Ritter, die sich für ihn einsetzten. Clodius berief sich auf das Einverständnis mit Caesar, Pompeius und Crassus. Pompeius hatte sich in sein Landhaus zurückgezogen. Einer Gesandtschaft erklärte er, als Privatmann könne er gegen einen bewaffneten Tribunen nichts unternehmen.
a.a.O. 280f
Caesar hat sich nach außen hin ganz zurückgehalten. Er nahm keinen Einfluß; begegnete Cicero sogar freundlich, bot ihm eine Legatenstellung in seiner Statthalterschaft an. gab sich verzweifelt über Clodius, der sich freilich nicht zurückhalten ließ. Merkwürdig ist, daß er den Antrag erst Ende Januar einbrachte. Vielleicht brauchte man erst noch einen Anlaß, um Pompeius zu zeigen, wie nötig Cicero und Cato entfernt werden mußten. Vielleicht auch war Clodius selbst sich zunächst nicht im klaren darüber, gegen wen er sich wenden sollte. Dann hat ihn Caesar, in dem die Gegner den »Helfer und Anstifter« sahen, erst drängen müssen. Jedenfalls wird sich Caesar auch Pompeius gegenüber als den Getriebenen dargestellt haben, der Cicero so gerne verschont hätte. Es war ein schamloses, ein arges Stück Politik, das er in diesen Wochen trieb.
a.a.O. 285f.
Danach konnte er Rom ruhig sich selbst überlassen. Clodius beherrschte mit seinen Banden die Straße. Er war der Held des Pöbels und vielleicht der breiten Menge überhaupt. Sie genossen die unentgeltlichen Getreideverteilungen und überdies die Weise, in der Clodius den Mächtigen zusetzte. Er entwickelte ganz neue Formen der Artikulation eines »Volkswillens«. Wo früher Gewalt in der Regel angewendet worden war, um Gesetze in der Volksversammlung durchzubringen, diente sie jetzt dazu, eine Art »Volksjustiz« zu praktizieren. Zunächst gegen Cicero, also für die Freiheitsrechte, die er verletzt hatte, dann auch gegen andere. Immer neue Aktionen, Angriffe, Besetzungen des Forums. Vereitlungen magistratischen Handelns wurden in Szene gesetzt. Die »Freiheit« des Volkes wurde in Gewalttätigkeit erfahren. Und die Weisen, in denen das geschah, deuten daraufhin, daß hier nicht nur der Aktionismus des Clodius am Werk war, sondern daß zugleich gewisse Bedürfnisse der stadtrömischen Menge dabei befriedigt wurden. Wo Clodius den Skandal brauchte, wollte sie die Unzufriedenheit mit ihren Lebensumständen in Taten – und nicht in Beschlüsse – umgesetzt sehen.
Neu war jetzt, daß Protest und »Volkszorn«, die Clodius so unvergleichlich inszenierte, ungestraft geübt werden konnten. Die Kräfte, die Widerstand hätten leisten können, waren zu schwach oder sie hielten sich gegenseitig in Schach. Caesars Consulat wirkte vielfältig nach. Der Senat war geschlagen, den Magistraten waren die Hände gebunden, eine Polizei gab es nicht. Zwar hatte man gewisse Ordnungskräfte, aber die waren nur dazu gedacht, die Straßen der Stadt gegen Landstreicher und Diebe zu sichern. Was darüber hinaus ging, war gleichsam der steten Fürsorge der Magistrate anheimgestellt, und die suchten sich ihre Helfer bei Freunden und Clienten; im äußersten Fall stellten sie aus diesen eine Art Hilfspolizei auf. Dieses System setzte aber die Energie und Sicherheit voraus, mit der man Anfängen wehren kann, damit Weiterungen gar nicht erst eintreten. Da diese einstweilen verbraucht waren, hatte Clodius freie Bahn: Er konnte seine ganze Leidenschaft austoben. Und die städtische Menge genoß ihre – scheinbare – Macht, manche, indem sie sie übten, andere, indem sie sich damit identifizierten. Die Desintegration der römischen Gesellschaft schritt fort. Den Banden war einstweilen nur durch Aufstellung anderer Banden zu begegnen; das geschah im Jahre 57. Und bis 52, als Clodius ermordet, sein wichtigster Gegenspieler verbannt und die Senatsautorität mit Pompeius‘ Hilfe wiederhergestellt wurde, sind immer von neuem Straßenkämpfe in Rom aufgeflammt.
a.a.O. 286f.
Weimarer Verhältnisse“ – mag einem dazu durch den Kopf gehen. Geradezu ‚klassisch‘ wird von Meier der Zerfall der römischen Republik beschrieben, die immerhin ein Weltreich dominierte. Es ist ein riesiges Spektakel, in dem Machtpolitik weniger Interessierter alle Register zieht: Intrigen, Manipulationen, Verleumdungen, fingierte Anklagen, Parteiungen und Parteienverrat, bis hin zu Mord und Totschlag. Und in diesem ganzen machtpolitischen Drama spielen die Volkstribunen, insbesondere in Gestalt von Clodius, eine herausragende Rolle. Sie stacheln die Menge an, nutzen Unzufriedenheit und Neid auf die Mächtigen, stellen eigene Gangs (Banden) auf, die sie zur Einschüchterung der Gegner und für gewalttätige Übergriffe brauchen und einsetzen. Hier tobt besonders in der Öffentlichkeit ein Machtkampf, in dem der Populismus die Rolle des Einpeitschers, der Aufstachelers, der Brandbeschleunigung und Radikalisierung spielt – und der Mob nach allen Regeln der Kunst Aufruhr und Terror befördert. Die feindlichen Gangs beherrschen die Straßen, auch so etwas wie ‚Saalschlachten‘ hat es gegeben, als die Curia, die Ratshalle, angezündet wurde. Und das alles waren nur Wirren, kein Bürgerkrieg, allerdings trug die Situation zur größten Verunsicherung der Bevölkerung Roms bei. Auch im Senat war man keineswegs sicher, denn die Institutionen waren ausgehöhlt und hatten ihre Autorität, die selbstverständliche Gültigkeit der römischen Verfassung, verloren. Und stets im Hintergrund die Strippenzieher, das Triumvirat von Caesar, Pompeius und Crassus, die sich bei ihren Ränkespielen durchaus auch gegenseitig belauerten, damit keiner einen einseitigen Vorteile erlangte. Die Republik ging daran zugrunde, Caesar setzte sich durch – bis zu den Iden des März. Was danach kam, war nicht die erneuerte Republik, sondern die Alleinherrschaft (‚dictatur‘) im Kaiserreich.
Christian Meier hat Anfang der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, als er sein Buch über Caesar verfasst hat, kaum an die Verhältnisse denken können, die uns heute beim Thema ‚Populismus‘, ‚Radikalisierung‘, ‚Polarisierung‘, ‚Desintegration der Gesellschaft‘ beschäftigen. Teilweise lesen sich seine Beschreibungen der Machtkämpfe während des Niedergangs der römischen Republik wie ein Menetekel, das Republiken und insbesondere Demokratien immer vor Augen haben sollten. Verächtlichmachung der Institutionen, Missachtung der Verfassung, ‚Hassreden‘ in der Öffentlichkeit bzw. in den öffentlichen Medien, Herausforderung der Ordnungsmacht des Staates und so fort sind in unseren modernen Zeiten die Warnsignale, dass unsere Gesellschaft und ihre Verfassung auf eine schiefe Bahn geraten können. Um dem zu begegnen, ist Wachsamkeit und rechtzeitiges Handeln der Organe des Staates und vor allem das Engagement seiner Bürger, also von uns allen, vonnöten. „Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich.“ (Mark Twain) Man kann darum Lehren ziehen aus der jüngeren Vergangenheit und aus dem entfernteren Beispiel, wie es auch die mächtigste Republik, die seinerzeit die res publica Romana war, durch Spaltungen und hemmungslose Machtkämpfe, ja eben auch durch einen sich wild gebärdenden Populismus, in den Abgrund ziehen konnte.
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