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Corona – Abwehrstrategien

Eine Zeitungs-Nachlese

Was ich vor zwei Wochen anlässlich der ersten Wochen der Corona – Pandemie über den „Kern der Verunsicherung“ schrieb, gilt auch heute noch: Es ist etwas Spezielles, das die Schwierigkeiten der Akzeptanz dieser beunruhigenden und gefährlichen Virusinfektion ausmacht: Wir sind hilflos einem Naturgeschehen ausgeliefert. Dass man nichts gegen schlimme Krankheiten tun kann, hat etwas Archaisches. Die meisten Seuchen hat man ziemlich gut in den Griff gekriegt mit einer Vielzahl von Behandlungsmethoden, welche die Überlebenschancen ständig verbessern. Ganz anders bei Corona, dagegen haben wir noch nichts. Ein Gefühl der Ohnmacht beschleicht einen – oder das Verdrängen: „Alles halb so wild, alles übertrieben!“ Bis es den Nachbarn, die Kollegin oder einen selber trifft.

Wir haben das Gefühl für die Urwüchsigkeit von Krankheiten verloren. In unserer technisierten Zivilisation gibt es gegen alles und jedes ein Mittel, ein Verfahren, einen intelligenten Ausweg. Nur hier beim Coronavirus versagt bisher unsere Kunst. Die begleitende Behandlung auf den Intensivstationen ist technisch auf höchstem Niveau und äußerst effektiv; die bisher relativ geringen Zahlen von Toten bei uns belegen das. Und dennoch bleibt es unzureichend, denn wir haben kein Medikament, keine bewährte Behandlungsmethode. Darum werden wir das Gefühl des Ausgeliefertseins erfahren gegenüber der Tücke solcher gefährlichen und sich weltweit verbreitenden Krankheitserreger.

In beispielhafter Weise analysiert Mark Siemons (FAZ) die Hilflosigkeit und Zerrissenheit der Gesellschaft in Zeiten derart massiver Einschränkungen, wie wir sie derzeit als notwendige Reaktion auf die dynamische Ausbreitung der Pandemie erleben, um die Infektionsketten zu brechen. Er schreibt in Anlehnung an Sigmund Freud von der Erfahrung einer „zivilisatorischen Kränkung“, die uns zu unterschiedlichen Mechanismen der Abwehr treibt. Ich verweise über die Zitate hinaus auf den gesamten Zeitungsartikel. Siemons schreibt:

Am Ende der ersten kollektiven Quarantäne-Woche breitet sich das Gefühl einer eigentümlichen Zerrissenheit aus. Viele Wortmeldungen geben ihre Einsicht in die Notwendigkeit der massiven Maßnahmen zu Protokoll und zugleich ihren grundsätzlichen Zweifel daran: Kann es denn richtig sein, dass innerhalb kürzester Zeit all unser Lebensstil, unsere Freiheit, unsere Ökonomie und viele politische Institutionen einem obersten Ziel unterworfen werden, ohne dass man weiß, wie und wann das enden soll? Verantwortungsgefühl spricht aus solchem Unbehagen, aber auch hilfloser Trotz, ein Sich-Stemmen gegen die Ungewissheit, die über die Verhaltensweise des Virus und die Wirkung der Gegenmaßnahmen nach wie vor besteht. – Die zivilisatorische Kränkung, die mit dieser Ungewissheit verbunden wird … wird als Zumutung, ja Beleidigung empfunden …

Mark Siemons, FAZ https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/corona-und-der-westen-die-zivilisatorische-kraenkung-16700907.html?premium

Siemons vermutet, dass sich unsere gesamte Lebenseinstellung im Laufe der Pandemie verändern wird. Zwischen den Erfordernissen der wissenschaftlich begründeten und politisch gesteuerten Pandemie-Bewältigung, den ökonomischen Herausforderungen und Ansprüchen und den individuellen Belastungen eines und einer jeden Einzelnen zwischen Home Office und Kinderversorgung, drohender Arbeitslosigkeit und Einkommensverlusten gilt es einen Ausgleich zu finden, Bewertungen zu erstellen und Prioritäten zu setzen – und immer wieder aufzuklären (beispielhaft Prof. Wieler, RKI), um die Gesellschaft ‚irgendwie‘ zusammenzuhalten. Genau dazu muss offenbar eine mündige und freiheitliche Gesellschaft entscheidend selber mit Solidarität und Eigenverantwortung beitragen. Erst dadurch kann auch ‚der Staat‘ funktionieren und seine jetzt stark gewachsenen Aufgaben erfüllen. Extrempositionen, moralische Brüche (eventuell Tabubrüche) und Verschiebung von Verantwortung gilt es tunlichst zu vermeiden.

Nicht die jetzt oft bemühte Gegenüberstellung von demokratischen und autoritären Regierungsformen scheint bei der effektiven Corona-Bekämpfung also entscheidend zu sein – Südkorea und Taiwan sind ja Demokratien, Singapur hat ein gemischtes System –, sondern die von Gesellschaften, die sich ihrer Gefährdung bewusst sind, und solchen, die das nicht sind.  –
Überhaupt kann es sein, dass sich dieser Tage nicht nur das äußere Leben ändert, sondern eine ganze Lebenseinstellung. Abstrakte Konstruktionen, die Leben und Freiheit, Gesundheit und Ökonomie, Alte und Junge gegeneinander auszuspielen versuchen (ein Wirtschaftsethiker verstieg sich gar zu dem Satz: „Wir können nicht unser gesamtes Wirtschaftsleben an den Bedürfnissen von 75-Jährigen ausrichten“), dürften an Plausibilität verlieren. Die Idee, Teile der Bevölkerung einer Infektion bewusst auszusetzen, um auf diese Weise rascher die sogenannte Herdenimmunität zu erreichen, erweist sich, je mehr man ihre Konsequenzen bedenkt, zunehmend als monströs, auch, je mehr Berichte von Forschern aus Hongkong und der Volksrepublik über bleibende Lungenschäden bei Genesenen die Runde machen. Solche Befunde bedürfen jetzt der weiteren Einordnung durch Experten und der Diskussion durch die gesamte Gesellschaft. –
Es zeigt sich, wie sehr der gemeinsame Überlebenskampf, ganz unabhängig vom Gesellschaftssystem, in zahllosen Krankenhäusern, Altenheimen und Nachbarschaften gerade das Menschliche zum Vorschein bringt. Es ist eine Demonstration, die sich keiner gewünscht hätte, aber da sie nun einmal von dieser Epidemie erzwungen wurde, kann man auch damit rechnen, dass sie die Zivilisation und deren Freiheiten danach prägen wird.

Mark Siemons, FAZ

Weil das ganz gewiss so ist, wie Mark Siemons schreibt, muss man insbesondere die Verdrehungen, Täuschungen, Fake Facts erkennen und als das bezeichnen, was sie sind: psychologische Verschiebungen, Verdrängungen, Übertragungen, Realitätsverweigerung, Beschönigungen und verantwortungslose Flucht vor der Wirklichkeit. Hier fällt wieder einmal der US-Präsident besonders auf, fast schon erwartungsgemäß, weil er offenbar überhaupt nicht in der Lage oder gewillt ist, das Ausmaß und die Dimension dieser Pandemie und ihrer exponentiellen Verläufe zu begreifen. Er steht damit allerdings als narzistisches Modell für manche andere auch hierzulande, die es vielleicht nicht so drastisch äußern, aber im Grunde dasselbe meinen und wollen: Kleinreden und Beschönigen, nur den einen, passend gemachten Teil der Wirklichkeit sehen und akzeptieren. Die Wissenschaft wird dann nur als ideologisierte Teilwahrheit (= Unwahrheit) wahrgenommen und den Wissenschaftlern „Starkult“ vorgeworfen.


Und wie reagiert der amerikanische Präsident? Er stellt eine rasche Wiederbelebung der Wirtschaft in Aussicht. „Dieses Heilmittel“, sagte Trump vergangene Woche, „ist schlimmer als das Problem.“ – Fasst man die ökonomische Forschung zu den gesundheitlichen Folgen von Wirtschaftskrisen so kurz wie möglich zusammen, dann lässt sich sagen: Rezessionen haben tatsächlich gravierende, aber erst einmal unsichtbare Folgen. Selbstmorde spielen jedoch eine untergeordnete Rolle.
Es kommt allerdings noch schlimmer. Der britische Ökonom Andrew Oswald hat gezeigt, dass Arbeitslosigkeit das Lebensglück stärker mindert als Trennung, Scheidung oder jeder andere untersuchte Schicksalsschlag. Und: Sie kann sogar das Leben verkürzen, wie Till von Wachter mit seinem Kollegen Daniel Sullivan von der Federal Reserve Bank of Chicago nachgewiesen. Im Jahr nach der Entlassung haben amerikanische Männer demnach ein doppelt so hohes Sterberisiko wie vergleichbare Beschäftigte. Um eineinhalb Jahre könne die Lebenswahrscheinlichkeit bei Menschen sinken, die mit 40 Jahren entlassen werden, so von Wachter. … Unter der Annahme, dass der typische Entlassene noch 45 Jahre zu leben hat, entspreche das rechnerisch 50000 Menschenleben. Von Wachters schlimmstes Szenario mit 10 Millionen neuen Arbeitslosen würde zu einem Verlust von umgerechnet 334000 Menschenleben führen. „Diese Verluste würden nach und nach über die nächsten zwanzig bis dreißig Jahre oder sogar noch länger eintreten“, schreibt von Wachter. … Angesichts solcher Dimensionen ist es wenig verwunderlich, dass nicht nur Trump, sondern auch Wirtschaftsforscher beginnen, mögliche Corona-Todesopfer gegen mögliche Krisen-Todesopfer aufzurechnen. Dass sie sich damit nicht nur ethisch, sondern auch wissenschaftlich auf sehr dünnes Eis begeben, zeigen die gegensätzlichen Ergebnisse folgender Berechnungen … Ob den nach Orientierung suchenden Politikern mit derlei von vielerlei Annahmen abhängigen Zahlenspielen geholfen ist? 

Johannes Pennekamp, FAZ https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/folgen-von-corona-wirtschaftskrisen-fordern-ihre-eigenen-opfer-16702137.html?premium

In diesem Artikel von Johannes Pennekamp (FAZ) wird deutlich gezeigt, wie sehr oftmals die Strategie verfolgt wird, Fakten zu verdrängen und durch extrapolierte statistische Modelle zu ersetzen. Da werden dann reale ursächlich durch das Coronavirus Verstorbene mit errechneten Wahrscheinlichkeiten statistischer Modelle über „Lebenswahrscheinlichkeiten“ und „Lebens- und Glückserwartungen“ bzw. -verluste verglichen und kategorial gleichgesetzt – was schon logisch völliger Unfug ist. Schon ganz unpassend ist der Verweis auf Suizide, die, traurig genug, niemals monokausal verursacht sind, sondern aus einem Bündel von unbewältigten Lebensumständen zur Verzweiflung führen.
Ähnlich und fast noch schlimmer ist es, was landauf – landab zu hören und zu lesen ist, wenn reales Leben und realer Tod mit entsprechenden Metaphern assoziiert werden, wie es drastisch folgendes Zitat zeigt, das ich im Newsticker von n-tv fand:

Vor irreparablen Schäden für die Wirtschaft durch Ausgangsbeschränkungen und Kontaktsperren, die über April hinausreichen, warnt der Aufsichtsratsvorsitzende von Continental und Linde, Wolfgang Reitzle: „Viele kleinere Firmen werden sterben und nicht mehr wiederzubeleben sein.“

n-tv.de

Firmen „sterben“ nicht, das ist nur eine Metapher, die Gleichartigkeit des Unvergleichbaren suggeriert. Firmen werden möglicherweise insolvent, und sie können auch nicht „wiederbelebt“, sondern bestenfalls mit staatlichen Geldern gestützt werden. Da wird kategorial Verschiedenes auf eine Ebene gestellt, genauso wie bei dem Vergleich von tatsächlichen Toten mit der statistischen Lebenserwartung in fragwürdigen Modellierungen („Zahlenspielen“). In all diesen Versuchen und Bemühungen mancher Politiker und Journalisten zeigt sich nichts anderes als Realitätsverweigerung: Die dynamische Wirklichkeit einer Pandemie nie gekannten Ausmaßes, ihre mögliche Dauer und weitreichenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen werden ausgeblendet zugunsten der Illusion, nach Ostern, im Mai, sei die Pandemie vorbei (Radiokommentar), das Leben und die Wirtschaft könnten dann wieder „hochgefahren“ werden wie ein Computer, der nur einen kleinen Defekt hatte.


Die Aussagen vieler Experten aber weisen in eine andere Richtung, sie klingen sogar noch vorsichtiger als Angela Merkel. Die Kanzlerin sagte, dass die Verdopplungszeit der Corona-Fallzahlen „in Richtung von zehn Tagen“ gehen müsse, bevor man die Einschränkungen lockern könne. Dies entspräche zwar einer deutlich langsameren Ausbreitung – derzeit verdoppelt sich die Zahl der bestätigten Fälle etwa alle fünf Tage. Dennoch würde sich das Virus in Deutschland weiter exponentiell ausbreiten. Laut dem Epidemiologen Rafael Mikolajczyk von der Universität Halle befindet man sich mit zehn Tagen an der Grenze, eine noch etwas stärkere Eindämmung sei ratsam. Wissenschaftler senden diese zentrale Botschaft seit Tagen an die Welt: Das Abmildern der Pandemie, das Abflachen der Kurve, das unter dem Hashtag #FlattenTheCurve schon eine gewisse Berühmtheit erreicht hat – es wird nicht reichen. … Es darf gar keine Kurve mehr geben, jedenfalls keine, die weiter ansteigt. Der Anstieg der Fallzahlen muss ganz zum Erliegen kommen. Das gilt auch für Deutschland.

Hanno Charisius, Christian Endt, Roland Preuss und Vanessa Wormer Süddeutsche Zeitung https://www.sueddeutsche.de/politik/coronavirus-covid-19-ausgangsbeschraenkung-epidemie-pandemie-flattenthecurve-1.4859546-0#seite-2

Hier muss die ebenso bekannte wie simple Reaktion erwähnt werden, den Boten für die Botschaft verantwortlich zu machen. Die Wissenschaftler maßten sich Unfehlbarkeit an, sie betrieben unerträglichen Starkult und wollten die Politik verdrängen und ersetzen; Christian Drosten von der Charité wird höhnisch vorgeworfen, sich aufzuführen wie der neue Bundeskanzler. Vermutlich haben diejenigen, die so etwas verbreiten, nicht ein einziges Podcast von Prof. Drosten gehört. Aber gleichwohl wird diffamiert und beschimpft – der Bote der bösen Nachricht ist der eigentliche Schuldige für das Übel – eine infantile, altbekannte und leider altbewährte Weise offener Realitätsverweigerung und Verschiebung der Verantwortung. Im Falle der Corona – Pandemie liegen die Fakten, das immer noch sehr begrenzte und unvollständige Wissen und das Bemühen der Wissenschaftler, den Entscheidern in der Politik dennoch so gut wie möglich Daten und Fakten bezüglich der bekannten Verläufe und erwarteten Hilfsmittel (Medikamente, Vakzine) bereitzustellen, klar und offen vor Augen.

Was bedeutet das nun für eine Lockerung der Beschränkungen in Deutschland? Die Härte, die mit geschlossenen Läden und Unis, mit stillgelegten Fabriken und Kontaktverboten einhergeht, sie ist aus Sicht vieler Wissenschaftler vorerst ohne Alternative. Wie lange ist „vorerst“? Den Forschern zufolge ist kein schnelles Ende in Sicht. Es sei „damit zu rechnen, dass diese Einschnitte über die nächsten Monate aufrechterhalten werden müssen, um zu einer völligen Eindämmung der Infektionsausbreitung zu führen“, heißt es in einer Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie. Auch in einer viel beachteten Studie des Imperial College in London ist von „vielen Monaten“ die Rede, in denen man die Sozialkontakte verhindern müsse. Werden die Einschränkungen zu früh gelockert, droht erneut ein exponentieller Anstieg, die Kurve würde nur nach hinten verschoben, aber genauso hoch klettern .

Süddeutsche Zeitung

Wir werden uns also noch auf eine lange Zeit hin mit der Bewältigung der Pandemie beschäftigen müssen – mit all den unterschiedlichen Szenarien, Einschätzungen und Beschränkungen, die heute und morgen und bis auf weiteres nötig sind. Positive Veränderungen kann es geben, sobald mehr schnell verfügbare Tests sowohl auf vorhandene Antikörper (=Immunität) als auch auf „Antigene“, das heißt auf Nachweise eines Virusproteins unmittelbar nach der Infektion, verfügbar sind. „Wenn die Tests gut anschlagen, dann können sie die aktuellen komplett ersetzen. Dann sind die Warteschlangen weg. Ich hoffe, dass es vielleicht im Mai so weit sein könnte.“ (Chr. Drosten im ZEIT Interview.)

Andererseits müssen auch die Kapazitäten ausgebaut werden, die notwendig sind, um kleine Ausbrüche sofort einzugrenzen. Dazu zählen Tests auf das Virus (vor allem die Testkapazitäten müssten deutlich ausgebaut werden), aber auch sogenannte Contact Tracer, eine Art Gesundheitsfahnder, die das Virus jagen, die Kontaktpersonen von Infizierten aufspüren und unter Quarantäne stellen. Erst wenn alle Vorbereitungen getroffen wurden und die Zahl der täglichen Neuinfektionen so weit gesunken ist, dass die Behörden mit individuellen Maßnahmen wie Virustests im Umfeld des Infizierten und akribischem Contact Tracing verhindern können, dass sie sich zu neuen Ausbrüchen auswachsen, kann man darüber nachdenken, die Einschränkungen zu lockern. – Fest steht, dass sich die Gesellschaft entscheiden muss, was ihr wichtig ist. Denn ohne Einschränkungen wird es auch mit der besten Virus-Überwachung nicht gehen. Im Herbst erwarten Epidemiologen eine zweite Infektionswelle. Besiegt wird das Virus erst sein, wenn ein Impfstoff verfügbar ist – und damit rechnen Wissenschaftler erst im Laufe des Jahres 2021.

Süddeutsche Zeitung
Intensivmedizin (c) Deutsche Welle

Nicht vergessen werden darf, dass die Corona – Pandemie vermutlich die Ärmsten am stärksten treffen wird, das gilt sozial wie international. „Die Kette des Kollapses fängt bei den Schwächsten an“, titelt die Süddeutsche Zeitung. Die Länder Afrikas und des Nahen Ostens werden von der Krankheitswelle hart erfasst werden ohne eine vergleichbare medizinische Infrastruktur, wie wir sie in den westlichen Industrieländern haben. Die Voraussage von Stefan Kornelius klingt nicht gerade ermutigend, weder für die ‚fernen‘ Länder noch für uns: „Während Europa mit Corona kämpft, braut sich das eigentliche Unheil erst zusammen. Sobald die Krise die ärmeren Staaten erreicht, wird sie in neuer Form zu uns zurückkehren.“ Und weiter: „Die Überlebenschancen mit einer Erkrankung wachsen dort mit dem Kontostand“. Es sind bedrückende Perspektiven, und dabei sind auch die Flüchtlingslager auf den griechischen Inseln oder an der syrischen Grenze nicht zu vergessen. „Pandemie“ heißt ja: Es trifft alle – aber doch in sehr unterschiedlicher Weise und auf ganz unterschiedlicher Basis und mit ganz unterschiedlichen Auswirkungen. Ich sehe das mit einem Gefühl großer Hilflosigkeit.

Schließlich sei noch auf die plötzlich aktuelle medizinethische Frage der „Triage“ hingewiesen, also der Vorrangentscheidungen über Leben und Tod unter akuter Knappheit. Was hierzulande glücklicherweise bisher noch eine theoretische Frage ist, ist in Italien, Spanien und den USA schon ein täglicher Zwang zur Entscheidung, weil die Ressourcen zu knapp waren und längst aufgebraucht sind. Die Medizinethikerin Prof. Bettina Schöne-Seifert (WWU Münster) erhellt dieses Thema knapp und gründlich in einem Plus-Artikel (kostenpflichtig) der FAZ: Wen soll man sterben lassen? Das Dilemma der Triage. Sie nimmt dabei Bezug auf die gerade veröffentlichte Ad-Hoc-Empfehlung des Deutschen Ethikrats: „Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise“. – Bisher ist die Praxis der Triage nur aus Kriegszeiten und regionalen Katastrophenfällen bekannt. Wir sehen und lernen auch daraus: Die Corona – Pandemie ist weltweit DIE Katastrophe des noch jungen 21. Jahrhunderts.

Bleiben wir also vor allen Dingen geduldig, auch wenn das schwerfällt. Wir brauchen gegenüber dem Virus und seiner Bekämpfung einen langen Atem; die Bevölkerung samt Wirtschaft und Gesellschaft wird sich für längere Zeit auf ein Leben einstellen müssen, das eben nicht „normal“ ist, nicht so, wie wir es bisher kannten. Wann wir zu neuer Freiheit gelangen, also wann ein Impfstoff gegen die tödlichen Folgen der Viruserkrankung schützen kann, ist noch offen. Aber realistisch ist es schon: Es wird erst ab Mitte 2021 sein, dass ein Vakzin in großer Menge überall zur Verfügung steht. Dann kann das freie Leben zurückkehren – oder sich neuen Formen zuwenden, die wir heute noch nicht kennen. Denn es wird für einige Generationen geprägt sein von der Erinnerung an das singuläre Ereignis dieser Pandemie. Sie wird im kollektiven Gedächtnis ihren Platz finden.


Man kann übrigens jetzt schon vermuten, dass die Podcasts des NDR mit Professor Christian Drosten zu den beispielhaften Standard – Dokumenten dieser Pandemie über das Verhältnis Wissenschaft und Politik (sowie Ethik und Medien) gehören werden. Sie sind zusätzlich als Skripte beim NDR verfügbar.

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