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Gesellschaft Medizin

Langzeit – Virus

Es sieht so aus, als müssten wir uns auf eine viel längere Zeit einrichten, mit dem SARS CoV 2 Virus zu leben, als bisher gedacht. Erste Perspektiven richteten sich auf Wochen oder schlimmstenfalls Monate, bis man die Pandemie im Griff haben würde: Medikamente und bequeme Schnelltests sollten sehr bald, noch im Mai, zur Verfügung stehen, ein Impfstoff werde innerhalb kürzester Zeit gefunden werden und nach einigen Monaten notwendiger Tests dann im Laufe des Jahres 2020 oder Anfang 2021 bereit stehen. Und dann wäre der Spuk vorbei.

Von all dem ist nicht mehr viel zu hören. Erste Hoffnungen auf bekannte und gegen andere Viruserkrankungen eingesetzte Medikamente haben sich bisher nicht erfüllt. Das Ausweiten des Testens bezieht sich weiterhin auf die laborabhängigen PCR Tests. Über Impfungen wird zwar viel geschrieben – fast täglich kommt irgendeine ‚Erfolgsmeldung‘ – aber trotz der über 70 verschiedenen Projekte sind allenfalls bei zwei oder drei Kandidaten erste zahlenmäßig äußerst begrenzte klinische Tests zu vermelden. Unterdessen wird eine Studie des britischen „National Covid-Testing Scientific Advisory Panel“ bekannt, die beim Preprint-Server „Medrxiv“ einzusehen ist, nach der es große wissenschaftliche Schwierigkeiten gibt, überhaupt eine anhaltende Immunisierung zu erreichen:

Das Immunsystem bildet kein lang anhaltendes Gedächtnis gegen Coronaviren.

Bislang gibt es gegen keines der Coronaviren, die als infektiös für Menschen bekannt sind, eine Vakzine. Weder gegen die recht harmlosen, nur Schnupfen auslösenden Varianten, noch gegen das in arabischen Staaten von Kamelen auf den Menschen übergesprungene Mers-Coronavirus oder das inzwischen verschwundene Sars-Virus, das 2002 vor allem China und benachbarte Länder betraf.

Das liegt nicht (nur) daran, dass damit zu wenige Forscher mit zu wenig finanzieller Unterstützung beschäftigt waren, sondern hat auch wissenschaftliche Gründe. So reagiert etwa das Immunsystem so auf Sars-CoV-2, dass bestimmte Antikörper nicht oder nicht in ausreichender Menge gebildet werden, damit sich ein lang anhaltendes Immungedächtnis ausbilden könnte.

https://www.tagesspiegel.de/wissen/die-hohen-huerden-beim-corona-impfstoff-die-aussichten-auf-einen-immunschutz-gegen-covid-19-sind-vage/25768352.html

In dem Artikel werden die Zusammenhänge recht ausführlich und fachspezifisch erklärt. Das Fazit steht bereits im Titel: „Die Aussichten auf einen Immunschutz gegen Covid-19 sind vage.“ Derzeit wenigstens. Studien gibt es viele und täglich neue, gerade auch ungeprüfte auf Preprint Servern. Die müssen also von Fachleuten geprüft und angemessen bewertet werden. Allerdings stimmt die vorläufige Tendenz der zitierten Studie mit dem eigenen Eindruck überein: Täglich hoffnungsfrohe Meldungen und Ankündigungen, aber kaum ein wirklicher Erfolg. Der ‚Spuk‘ will nicht aufhören.

Coronavirus, (c) RKI

Mediziner und Virologen lernen fortwährend hinzu, sowohl was die Krankheitsverläufe und begrenzten therapeutischen Maßnahmen als auch was die systemischen Auswirkungen des Virus auf den menschlichen Körper angeht. Wissenschaftler lernen das Virus und seine verheerenden Wirkungen erst nach und nach genauer kennen. Kein Wunder also, dass zielgenaue Therapien, Medikamente, die wenigsten den Verlauf abmildern, und langfristig immunisierende Vakzine auf sich warten lassen. Der Kampf gegen das SARS CoV 2 Virus braucht viel mehr Zeit als erhofft.

Das bedeutet eine Menge für den Umgang mit diesem Virus. Nach den anfänglichen kurzfristigen und auch nur begrenzte Zeit aufrecht erhaltenen Maßnahmen (Kontaktverboten usw.) gilt es nun Strategien zu entwickeln, wie wir (jede/r einzelne und die Gesellschaft insgesamt) langfristig mit diesem Virus leben können. Wenn man die Infektionsfälle eindämmen, die Ausbreitung begrenzen und mit Tests und Nachverfolgung unter Kontrolle halten und dadurch auch die Sterberaten deutlich senken will – und zu dieser Zielbestimmung gibt es aus unterschiedlichsten Gründen, sowohl ethischen wie sozialen und ökonomischen, keine wirkliche Alternative – dann bedeutet das einen weitreichenden Wandel unserer Umgangsformen und unseres Lebensstils. Ich glaube, dies ist den Wenigsten bisher bewusst, – es wird auch kaum kommuniziert.

Das bedeutet zum einen, dass die empfohlene Hygiene, Abstandhalten inkl. Gesichtsschutz, Vermeidung großer Menschenansammlungen beibehalten werden muss. Ob sich das von Staats wegen dauerhaft anordnen und durchsetzen lässt, sei dahingestellt. Das hängt sehr weitgehend von der Einsichtsfähigkeit und Solidarbereitschaft großer Teile der Bevölkerung ab. Zumindest kann sich jede/r einzelne entsprechend verhalten, wenn man sich selber und andere so weit wie möglich vor Ansteckung schützen will. Das allein ist schon etwas, was eingeübte und lang gelebte Verhaltensweisen auf den Kopf stellt. Was bedeutet das in Schule und Sport, in Freizeit und Kultur, für Feiern und Vergnügen? Was bedeutet das für das Zusammenleben in der größeren Familie, für Großeltern und Enkelkinder, Onkel und Tanten, wie wirkt sich das aus auf Freundschaften, Bekanntschaften und Kollegialverhältnisse? Was geschieht da mit den menschlichen Bedürfnissen nach Nähe und Kontakt?

Ein dem Leben mit dem Virus angepasstes Verhalten geht aber noch weit über die unmittelbar persönlichen Lebensbezüge hinaus. Wie werden wir Beruf und Freizeit gestalten, wie Schule und Bildung, Urlaub und Reisen – mit Kontaktvermeidung und Gesichtsmasken? Funktioniert das überhaupt? Irgendwie werden wir das lernen müssen, wenn ein weiterer katastrophaler Verlauf der Pandemie verhindert werden soll. Und selbst wenn sich die Einzelnen und auch die Gesellschaft einigermaßen kontrolliert und verständig verhalten sollten, so droht doch jederzeit irgendwo ein neuer Ausbruch – und diese Bedrohung und die damit verbundenen Ängste sind es, die Auswirkungen auf das Miteinander und das psychische Wohlergehen haben können. Andererseits gewöhnt man sich an alles, auch an die Anwesenheit bestimmter Bedrohungslagen. Es wäre noch so viel zu nennen und zu bedenken, etwa das soziale und wirtschaftliche Zusammenleben betreffend. Jetzt sind nur Fragen und erste Überlegungen möglich, denen mit Spekulationen wenig beizukommen ist. Man wird bis auf weiteres das Verhalten im Großen wie im Kleinen immer wieder neu justieren und anpassen müssen. Da ist viel Phantasie und miteinander Reden nötig!

Eine funktionierende und möglichst weit akzeptierte App könnte da eine Menge helfen. Je genauer sich Infektionen und Infizierte nachverfolgen lassen, desto schneller und erfolgreicher gelingt die nötige Isolierung (Quarantäne) und Eindämmung. Da gibt es ja hoffnungsvolle Erfahrungen aus den Städten Rostock und Jena, noch ohne App. Diese Erfahrungen müssen allerdings auf eine sehr viel größere Zahl und weitere räumliche Bereiche angewendet werden können. Man wird sich dieses und noch anderes (z.B. persönliche Daten beim Restaurantbesuch hinterlegen) einfallen lassen müssen, um das auszugestalten, was es heißt: Mit dem Virus lange Zeit zu leben.

Man hat es von den Fachleuten schon oft gehört, aber ich glaube (und schließe mich da ein) noch nicht richtig begriffen und verinnerlicht. Der Umgang mit diesem Coronavirus ist ein Marathon. Bisher hatten wir nur einen kurzen Anfangssprint. Es kommt auf die Langstrecke an. Dazu braucht es noch viel Ausdauer, Geduld, Bereitschaft sich anzupassen und Rücksicht zu nehmen, ja auch mancherlei Verzicht. Ohne den wirds nicht gehen. Ob und wann wir wieder „normal“, also wie vor Corona leben werden und leben können, steht für absehbare Zeit in den Sternen. Man kann inzwischen auch ruhig mal die Chance nutzen und fragen, ob das denn überhaupt in jeder Hinsicht wünschenswert ist.

Update 28.04.2020:
Die Corona-Pandemie ist die vielleicht letzte Chance zum Umdenken beim Klimawandel
https://www.tagesspiegel.de/politik/jetzt-bloss-nicht-den-lobbyisten-nachgeben-die-corona-pandemie-ist-die-vielleicht-letzte-chance-zum-umdenken-beim-klimawandel/25777392.html

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