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Wahlrechtsreform

Zur Reform des Bundestages

Die Größe des Deutschen Bundestages ist variabel und umfasst mindestens 598 Abgeordnete. Für das Wahlverfahren gilt ein personalisiertes Verhältniswahlrecht mit einer Sperrklausel (5%), also eine Kombination aus Verhältniswahl und Mehrheitswahl. Das war 1949 noch eine Besonderheit, inzwischen gibt es weitere Staaten mit solch einem Mischverfahren. Eine weitere komplizierende Besonderheit besteht darin, dass die Kandidatenlisten nach Parteien auf Länderebene eingerichtet sind, das prozentuale Wahlergebnis aber auf Bundesebene gilt. In den Wahlkreisen zählt die einfache Mehrheit. Erhält eine Partei mehr Wahlkreisabgeordnete, als ihr nach dem Stimmenverhältnis zustehen, wird der „Überhang“ durch zusätzliche Mandate nach den Länderlisten ausgeglichen, so dass dem Stimmenverhältnbis des Wahlergebnisses stets Rechnung getragen wird.

Eine Wahlrechtsreform gilt seit einigen Jahren als dringend erforderlich, da inzwischen zur Normalität geworden ist, was in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik als „Stimmensplitting“ noch eine Besonderheit war: Dass nämlich die Parteienpräferenz bei der Erststimme (Wahlkreis) einer anderen Partei gelten kann als bei der Zweitstimme (Landesliste). Es hat sich deutlicher herausgestellt, dass die erste Stimme einem Kandidaten oder einer Kandidatin als Person gilt und weniger als Vertreter/in einer Partei. Das entspricht ja auch der ursprünglichen Absicht der personalen Mehrheitswahl, dass nämlich jeder Wahlkreis von einem / einer direkt gewählten Abgeordneten vertreten wird. Dies hat dazu geführt, dass bei den vergangenen Bundestagswahlen gewonnene Direktmandate und zustehende Sitze nach der Verhältniswahl immer stärker voneinander abwichen und durch zusätzliche Listenmandate ausgeglichen werden mussten. So besteht der Bundestag derzeit aus 709 Abgeordneten; nach der Wahl 2021 könnten es noch mehr werden. Diese Vergrößerung des Bundestages soll durch eine Wahlrechtsreform begrenzt werden.

Plenarsaal

Ich möchte dazu einige Überlegungen anstellen und lasse dabei die (verfassungs-)rechtliche Beurteilung außen vor – ich bin kein Jurist. Die Stärke unseres geltenden Wahlrechts besteht darin, das positive Elemente aus zwei verschiedenen Wahlmodellen miteinander verbunden werden und damit Nachteile bzw. Einseitigkeiten des jeweiligen ‚reinen‘ Wahlverfahrens vermieden werden. Der Vorteil der Mehrheitswahl ist es, dass es in einem Wahlkreis ein klares Mandat für einen / eine Abgeordnete/n gibt, auch wenn dafür nur die relative Mehrheit ausreicht. Würde es beim reinen Mehrheitswahlrecht bleiben, so fielen alle anderen Stimmen der unterlegenen Kandidaten unter den Tisch. Großbritannien zum Beispiel hat ein solches einfaches Mehrheitswahlrecht. Dort kann es geschehen, dass bei einer Wahl eine Partei zwar nicht die Mehrheit der Stimmen erzielt, aber doch die Mehrheit der Sitze; die Minderheit wird nicht vertreten.

Genau dieser unerwünschte Effekt soll durch die Begrenzung des Mehrheitswahlrechts durch ein starkes Element des Verhältniswahlrechts vermieden werden. Die Anzahl der gewonnenen Wahlkreismandate dürfen bei unserem Mischverfahren das Stimmenverhältnis aller zur Wahl angetretenen Parteien im Bund nicht verfälschen. Diesem Ziel dienen die entsprechenden Ausgleichsmandate. Genau das aber hat zur Folge, dass die Zahl der Abgeordneten im Deutschen Bundestag nach oben unbestimmt ist und die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigen kann. So jedenfalls argumentieren die Kritiker des bestehenden Verfahrens („unkontrollierter Aufwuchs des Bundestages“). Das ist allerdings nicht so offensichtlich, wie es scheinen mag. Arbeitsfähigkeit ist ja eine Frage der Organisation und der Räumlichkeiten. Es müsste schon weitere gute Gründe geben, die eine Begrenzung der Zahl der Abgeordneten erfordern. Ich habe noch keine gefunden.

Dagegen spricht einiges für die Beibehaltung der jetzigen Regelung. Denn die Reformvorschläge laufen auf eine Kappung der Gesamtzahl der Sitze oder eine Verminderung der Wahlkreise hinaus (250, so der Gesetzentwurf der Grünen). Kappung würde bedeuten, dass nur soviele Sitze vergeben werden wie prozentual zustehen. Überzählige Wahlkreismandate entfallen dann. Mal angesehen davon, dass dies wohl kaum die Zustimmung der traditionell bei den Erststimmen starken Unionsparteien finden kann, spricht auch ein sachliches Argument dagegen. Das gemischte personalisierte Wahlverfahren würde hin zu einem reinen Verhältniswahlrecht verschoben. Direktmandate würden gegenüber Listen entwertet.

Dem gemischten Verfahren enspricht eher der Vorschlag, die Anzahl der Wahlkreise zu verringern. Derzeit umfasst jeder Wahlkreis zum Bundestag 250.000 (+/- 15.000) Einwohner, das entspricht ungefähr 200.000 Wahlberechtigten. Eine Reduzierung der Wahlkreise von 299 auf 250 würde bedeuten, dass jeder Wahlkreis 332.000 Einwohner umfassen und entsprechend ungefähr 256.000 Wahlberechtigte vertreten würde. In der Repräsentanz ist das eine deutliche Verschlechterung. Dennoch könnten sich durch auszugleichende Überhangmandate wiederum weit über 599, vielleicht 670 Sitze ergeben – offenbar nur ein geringer zahlenmäßiger Vorteil.

Einleuchtender wäre der Weg, es beim derzeitigen Wahlrecht und auch der Zahl der Wahlkreise zu belassen und die Arbeitsweise des Parlaments auf die etwas größere Zahl von Abgeordneten hin neu zu organisieren. Eine Verschlechterung der Repräsentanz halte ich nicht für wünschenswert. Dagegen gibt es digitale Möglichkeiten, um die Arbeitsweise des Parlaments zu verbessern. Ich glaube nicht, dass dies schon hinreichend bedacht und planerisch erfasst worden ist – jedenfalls habe ich davon noch nichts gelesen. Es ginge also vielmehr darum, die Geschäftsordnung des Bundestages auf die größere Zahl von Abgeordneten hin anzupassen bzw. umzustrukturieren. Der Hinweis auf mangelnde Räumlichkeiten kann man schon überhaupt nicht als Argument gelten lassen. Dem ließe sich ja durch einen Erweiterungsbau abhelfen.

Dass es anderswo kleinere Parlamente gibt bei ebenso großer oder größerer Bevölkerungszahl, sehe ich ebenfalls nicht als Gegenargument. Die Größe des Deutschen Bundestages entspricht durchaus dem Gewicht, das der Repräsentanz der Wähler/innen im Parlament zukommt. Der Bundesrat ist dagegen keine zusätzliche Repräsentanz im Sinne eines Senats oder einer sonstigen zweiten Kammer, sondern eine reine Ländervertretung. Sie tut der im Bundestag konzentrierten repräsentativen Demokratie keinerlei Abbruch. Wir sind bisher gut gefahren mit unserem parlamentarischen System, das hat sich auch während der Coronakrise gezeigt. Es gibt daher keinen sachlichen Grund, das Wahlverfahren wegen der zahlenmäßigen Größe des Bundestages zu ändern.

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