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Polarisierung und Radikalisierung

Ein unumkehrbarer Trend?

Mit einiger Verwunderung und Erschütterung konnte man vor einigen Jahren die Brexit-Debatten in Großbritannien verfolgen. Soviel Emotionen, soviel extreme Meinungen und falsche Behauptungen, soviel Wunschdenken – und soviel Verbitterung, ja Hass – eine bis dahin nicht für möglich gehaltene Spaltung in der britischen Gesellschaft.

Das war aber nur ein Vorspiel und verblasst angesichts dessen, was dem Zuschauer von außen im Präsidentschaftswahlkampf der USA 2020 vorgeführt wurde. Hass bis zur Gewaltbereitschaft, Verleumdung, Feindschaft zwischen den beiden großen politischen Gruppen im Land, so dass der Riss der Verfeindeten sogar durch die Familien lief. „Fake news“ ist ein fester Begriff geworden, zuerst ein Kampfbegriff der einen, bald ein Kampfbegriff, den jeder der jeweils anderen Seite vorwirft. Verständigung scheint unmöglich. Damit aber werden auch demokratische Prozesse unmöglich, denn diese beruhen auf offener Diskussion, Anhören der unterschiedlichen Meinungen, Abwägen der Argumente, schließlich Entscheidung der Verantwortungsträger und Respektierung der jeweilig unterlegenen Minderheit.

In den USA gibt es das in der aufgeheizten Polarisierung nicht mehr, zumindest nicht bei den eingeschworenen ‚Fans‘. Auch in dieser Weise neu: Politiker als Einpeitscher umgeben von blindwütigen Fans. Es ist völlig, offen, wie diese Spaltung überwunden werden soll. Zum Teil kann man dasselbe immer noch in Großbritannien beobachten, wo die Fronten, die der Brexit aufgebaut hat, bei anderen Fragen schnell wieder aufbrechen und eine Diskussion vergiften. Es gibt ja Strategen, die genau dies, Radikalisierung und emotionale Polarisierung mit dem Ziel der Zerstörung demokratischer Prozesse zum Programm erhoben haben: Steve Bannon zum Beispiel und der gerade zurückgetretene Chefberater des britischen Premiers, Dominic Cummings. In Osteuropa fallen einem dazu ebenfalls einige Namen ein, sogar unter Regierungschefs oder anderen auf oberer politischer Ebene.

Was geht da ab? Die Frage nach einer angemessenen Einschätzung dieser Entwicklung endet oft in Ratlosigkeit. Bei uns in Deutschland ist die Situation längst nicht so aufgeheizt wie anderswo. Die radikalen Leugner, Anhänger von Verschwörungsmythen und Querulanten (die sich ‚Querdenker‘ nennen) sind zwar überwiegend am rechten politischen Rand einzuordnen und trotz großer Lautstärke und Provokationen nur eine zahlenmäßig kleine Gruppe in der Gesellschaft, aber sie setzen Themen und geben den Ton an, – wie zum Beispiel gegen den Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk. Auf der Gegenseite versteifen sich die vermeintlich ‚weltoffenen‘ Linken auf einen zunehmenden Antipluralismus, der wegen all der ihrerseits propagierten Richtigkeiten und Verabsolutierungen ins Identitäre hinüberkippt. Die Extreme berühren sich, und dann sammeln sich die Identitären von Rechts unter dem Banner von ‚Volk‘, ‚Nation‘, weißer ‚Rasse‘, womöglich ‚Christlich‘ – und die Identitären von Links unter den Parolen von Authentizität, Selbstoptimierung und kulturalistischer Relativierung. Universal gültige Werte und Menschenrechte sind für beide Extreme nicht mehr konsensfähig. Dies ist schon oft beschrieben worden, zuletzt präzise und pointiert von Markus Meckel „Moral und Demokratie. Wenn politische Lager zu Feindesland werden.“ (Gastbeitrag in FAZ plus).

Eine Frage, die oft gestellt wird, geht auf die Ursachen: Woher kommt diese Heftigkeit der Polarisierung, die man weltweit beobachten kann, zumal in westlich orientierten Ländern? Die Gründe werden dann in prekären sozialen Situationen vermutet, im Gefühl des Abgehängtseins oder der Überforderung angesichts eines zu schnellen gesellschaftlichen und ökonomischen Wandels. Andere verweisen auf demografische Aspekte zum Beispiel im Osten Deutschlands (Überalterung, Männerüberhang, Arbeitslosigkeit) oder Bildungsmangel. Das mag alles richtig sein, erklärt aber noch nicht wirklich, warum diese Polarisierung und Radikalisierung weltweit unter ganz verschiedenen kulturellen und sozioökonomischen Bedingungen zu finden ist. Es muss dementsprechend auch globale Ursachen geben, die aufzudecken und zu benennen nicht ganz einfach ist. Ich kann nur Vermutungen anstellen in Richtung Bevölkerungswachstum, Migration, Schrumpfen der Lebensgrundlagen aufgrund von Klimaveränderungen. Dies wirkt alles global, wäre aber noch zu erhärten und sehr viel genauer zu untersuchen. Es gibt dazu ja durchaus Ansätze.

Mahatma Gandhi
Gandhi (rechts) mit Nehru Indien 1946 (c) wikimedia

Die andere ebenso große und schwere Frage lautet: Was kann man denn dagegen tun? Vorausgesetzt man ist der Überzeugung, dass hier eine gewaltige Fehlentwicklung im Gange ist, deren fortschreitender Prozess unweigerlich zu noch mehr Krieg und Gewalt führen wird. Wie kann man sich dem wirksam entgegenstemmen? Eine Trendumkehr durch Anstöße einzelner Intellektueller oder kleiner Gruppen dürfte wirkungslos sein. Ein rücksichtsloser Individualismus hat ja zu der Malaise beigetragen. Muss man einfach abwarten, bis durch irgendwelche Zuspitzungen und Eruptionen Ereignisse eintreten, die zu einer Besinnung und zu einem neuen, auf friedlichen Ausgleich bedachten Wandel führen können? Ich sehe da allerdings vorläufig gar nichts, außer dass die Antagonismen noch viel weiter gehen und heftiger werden dürften als bisher. Die USA sind uns in vielen gesellschaftlichen Entwicklungen oft um ein Jahrzehnt voraus gewesen, – wird sich das auch diesmal wiederholen?

Ich weiß es nicht, und mir fehlt auch die Phantasie, mir eine Trendumkehr und einen universal ausgerichteten Wandel hin zu Verständigung, Ausgleich und einem gemeinsamen Anpacken der globalen Probleme (siehe oben) vorzustellen. Bisher dominieren stets die Eigeninteressen. Vorerst kann wohl jeder nur an seinem Ort jeweils das Seine tun im Kleinen. Das mag pessimistisch klingen, aber im Grunde bin ich Optimist, dass der Menschheit doch noch rechtzeitig etwas wirklich Kluges und Hilfreiches einfallen wird. Es braucht dafür ja nicht immer erst einen Weltkrieg. Bisweilen hilft ein Mahatma Gandhi, ein Nelson Mandela – oder halt eine Greta.

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