Es ist bemerkenswert, wenn ein Verfassungsschutzpräsident als Grund für Radikalisierungen in der Gesellschaft die Kategorie der Angst verwendet. In einem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung äußert sich der Chef des Verfassungsschutzes in Nordrhein-Westfalen, Burkhard Freier, über die Szene der Querdenker, Verschwörungstheoretiker, Reichsbürger, Identitäre – und was es noch mehr an radikalen Gruppen und Facetten gibt: „Sie werden bleiben.“ Am Ende dieses Gesprächs fasst Freier zusammen:
Die Geschwindigkeit der Radikalisierung hat zugenommen. Dass Leute jede Regel außer Acht lassen, das ist schon enorm. … Bemerkenswert ist, dass es immer weniger Abgrenzungsreflexe zum Rechtsextremismus gibt, und wie hier eine Gefahr für die Demokratie aus einer ganz neuen Richtung erwächst.
Menschen, die eine tiefe Wissenschaftsfeindlichkeit entwickelt haben, sind mit Aufklärung oft nur noch schwer zu erreichen. Das Phänomen kennen wir schon länger, im Rechtsextremismus ist Wissenschaftsfeindlichkeit schon seit hundert Jahren ein großes, identitätsstiftendes Thema und geht einher mit Männlichkeitskult, dem Glauben an heidnische Götter, einer Abwertung von seriöser Medizin als „Schulmedizin“.
Wir müssen dabei ganz grundlegend ansetzen und uns fragen: Welche Emotionen sind eigentlich die Triebfeder? Da ist vor allem die Angst. Nicht nur die Angst vor der Krankheit, sondern auch existenzielle Nöte, etwa Angst vor Einsamkeit. Wenn ich das Gefühl habe, ich kann nichts tun, ich bin ohnmächtig – dann bieten Verschwörungsmythen ein Ventil für den entstehenden Frust. Wie man insofern präventiv auf Menschen zugeht und auch ihre Lebensbedingungen in den Blick nimmt – das ist freilich eine wirklich komplexe Aufgabe.
https://www.sueddeutsche.de/politik/querdenker-radikalisierung-1.5486889 13.12.2021
Besonders die Formulierung „existenzielle Nöte, etwa Angst vor Einsamkeit – wenn ich das Gefühl habe, ich kann nichts tun, ich bin ohnmächtig“ lässt aufhorchen. Es ist nicht der allfällige Hinweis auf prekäre soziale Verhältnisse oder ein vermeintliches Abgehängtsein. Freier argumentiert sehr grundsätzlich: Er verweist auf Angst als ein existentielles Grundphänomen. Im Dorsch-Lexikon der Psychologie heißt es:
Angst, emotionaler Zustand (state), gekennzeichnet durch Anspannung, Besorgtheit, Nervosität, innere Unruhe und Furcht vor zukünftigen Ereignissen. Angst kann «frei flottierend» ohne klaren Bezug auf den Grund der Angst auftreten; bei klarem Bezug auf das Angst auslösende Objekt wird auch von Furcht gesprochen. Physiologisches Korrelat der Angst ist eine erhöhte Aktivität des autonomen Nervensystems (Stress).
https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/angst
Oder der Wikipedia-Artikel zu „Angst, psychologisch“:
Angst ist der Oberbegriff für eine Vielzahl von Gefühlsregungen, deren Gemeinsamkeit auf einer Verunsicherung des Gefühlslebens beruht. Der Psychoanalytiker Fritz Riemann unterscheidet in seinem verbreiteten Hauptwerk „Grundformen der Angst“ vier Persönlichkeitstypen. Als damit verbundene „Grundängste“ des Menschen beschreibt er die „Angst vor Veränderung“, die „Angst vor der Endgültigkeit“, die „Angst vor Nähe“ und die „Angst vor Selbstwerdung“.
https://de.wikipedia.org/wiki/Angst
Man kann auch einen philosophischen Zusammenhang des Begriffs der Angst ausmachen und stößt dann schnell auf die Existenzphilosophie und hier vor allem auf Sören Kierkegaard. Dadurch wird ein theologischer Hintergrund sichtbar. Kierkegaard war ein evangelisch-lutherischer Theologe und Philosoph im 19. Jahrhundert. Wenn seine ‚Existenzphilosophie‘ den Begriff der Angst in den Mittelpunkt rückte, dann tat er etwas, allerdings mit besonderer Intonation und neuzeitlicher Intensivierung, was die christliche Theologie und Kirchenfrömmigkeit seit Jahrhunderten geprägt hat: Der Umgang mit der Angst, besonders Entlastung von der Existenzangst und anderen ‚Höllenängsten‘ durch die ‚Heilsmittel‘ der Kirche – ja man kann von einer ‚Pädagogisierung der Angst‘ (Flasch) durch die Kirchen sprechen, um auf die rettende Liebe Gottes und sein Heil vorzubereiten. Dass damit zugleich die Instrumentalisierung menschlicher Ängste zum Zwecke der Machtausübung und Kontrolle verbunden war, ist die hässliche Kehrseite (siehe Kurt Flasch zum Thema „Ordnung, Führung, Bindung“).
Für meine Beobachtung ist nur wichtig, dass Kirchen und christliche Frömmigkeit, ein Glaube als lebensnahe Gestaltung von Angst und Vertrauen, die Liturgisierung und damit Einhegung von Angst und die seelsorgerliche Entschärfung des zerstörerischen Potentials von menschlichen Ängsten, individuell wie sozial, bereit gestellt haben. „Not lehrt Beten“ ist dafür die kurzgefasste Formel: Der Gottesglaube, die Rituale der Liturgie und die Einfügung in die Gemeinschaft der Gläubigen in einer lokalen Kirchengemeinde mit all ihren sozialen Strukturen und Funktionen hatten sozialpsychologisch eine eminent stabilisierende Funktion. Man könnte vielleicht sagen, dass die Tatsache, dass ein großer Teil der Bevölkerung mit einer bestimmten Kirchlichkeit verbunden und dadurch geprägt war (Volkskirche), auch eine psychologische Entlastung der Gesellschaft zur Folge hatte. Mit Existenzängsten und Situationen von Einsamkeit und Verzweiflung mussten sich Staat und Gesellschaft nicht abgeben, dafür waren die Kirchen da.
Durch die Entwicklung der Säkularisierung im 20. Jahrhundert, durch den Rückzug der Kirchlichkeit auf das rein Private und Persönliche kleiner Kreise und Gruppen, durch die zunehmende Bedeutungslosigkeit der Großkirchen ist diese gesellschaftlich stabilisierende Funktion der christlichen Kirchen, insbesondere von Glaube und Frömmigkeit, verlorengegangen. Dass dadurch zugleich eine enorme Befreiung von religiösen Zwängen und Druckmitteln, der Gewinn von eigenverantwortlicher Individualität und freier Entwicklung der Persönlichkeit verbunden waren und sind, ist die andere, positive Seite der Medaille, – ganz zu schweigen von der Last der ungeheuerlichen Missbräuche, die durch die Kirchen, insbesondere die zölibatäre katholische Kirche, begangen wurden, die jetzt erst nach und nach an den Tag gekommen sind. All das darf nicht verschwiegen werden.
Aber „abusus non tollit usum“ – falsche (in diesem Falle verbrecherische) Praxis sollten nicht die weiterhin positiven Aspekte von gelebtem Glauben und praktizierter Frömmigkeit verdecken. Hier geht es nur um diesen einen Aspekt: Dass Menschen in unserer säkularen Gesellschaft mit ihren Ängsten allein gelassen sind und dass einige sich andere Ventile suchen, mit ihren Ängsten umzugehen. Sie zum Teil auch in Gewaltphantasien umzuwandeln, in einer Blase Gleichgesinnter mit anderen zu teilen und womöglich auszuleben, kann dann durchaus erklärbar werden. Der religiöse Puffer von Stabilisierung, Lebensbegleitung und Lebensbewältigung, trägt nicht mehr oder ist gänzlich weggefallen. Darum ist es womöglich auch kein Zufall, dass besonders in den schon fast ein Jahrhundert lang ‚religionslosen‘ Gesellschaften Ostdeutschlands die Unfähigkeit, mit Angst vor Veränderung zu leben und eigene Ängste vor Einsamkeit und Sinnlosigkeit zu bewältigen, so groß und drängend ist. Insofern ist Religionslosigkeit immer auch Zeichen einer Mangelerscheinung. Eine zersplitterte, bunt gemischte Landschaft religiöser Grüppchen und Praktiken kann dem nicht abhelfen. Dass die traditionellen Kirchen diesen Mangel nicht erkennen oder nicht mehr die Kraft haben, darauf mit sinnstiftenden Angeboten zu reagieren, ist eine bedauerliche Tatsache. Vielleicht ist es in unserer differenzierten Gesellschaft dafür auch längst zu spät: Vergangenheit ist vergangen.
Säkulare, kulturell ausdifferenzierte Gesellschaften müssen neue Wege finden, den Einzelnen mit den Unwägbarkeiten, Unsicherheiten und Irrationalitäten des Lebens zu versöhnen. Sozialpolitische Stabilisierung ist dafür zwar nicht unwichtig, aber eben nur der materielle Aspekt. Auf der anderen Seite ist auch zu beobachten, dass Konventikelwesen, Aufsplitterung in vielfältige, wenn nicht zahllose Personalgemeinden und medial wirksame Angebotskirchen („Wir bieten, was ihr wollt.“) wie in den USA die Tendenz zum Fundamentalismus, zum Irrationalen, zum Sektiererischen nur noch verstärken können. In den USA sind die Trump-Rechten und die christlichen Fundamentalisten eine verhängnisvolles Verbindung eingegangen*). Ähnliches kann man in Brasilien, Afrika und Südkorea beobachten, Stichwort Pfingstkirchen. Das heißt, nicht jede Form religiöser Gemeinschaften eigenen sich dazu, sinnstiftende und Angst bewältigende Angebote bereitzustellen, die heilsam für die Gesellschaft insgesamt sind. Hierzulande kann man inzwischen eine besondere Nähe esoterischer, anthroposophischer und theosophischer Gruppierungen zum eher rechten politischen Spektrum ausmachen (siehe diesen FAZplus-Artikel zu den Milieus der Anthroposophen, „Querdenker“ und Impfgegner).
Somit wird auch aus dieser Perspektive deutlich, dass moderne, säkulare, kulturell ausdifferenzierte, stark individualisierte Gesellschaften ein ungelöstes Problem haben, was die soziale wie individuelle Sinnstiftung und private Lebensbewältigung betrifft. Als Reaktion darauf dürften salonfähiger aggressiver Nationalismus und neuerdings gefeierte Identitätsideologien und identitäre Bewegungen eher ein Teil des Problems sein und kein Teil eines Auswegs. Angst, Ängste haben eine gewaltige dysfunktionale Sprengkraft, wenn ihnen nicht beizeiten persönlich befriedigend und sozial befriedend begegnet wird.
*) Auch in den Vereinigten Staaten haben grosso modo die gleichen Akteure in der militanten Ablehnung der Corona-Politik zusammengefunden, mit hoher Affinität zur Gefolgschaft Donald Trumps, die im Januar 2021 das Capitol stürmte und diesen Putschversuch bis weit in die Partei der Republikaner hinein heute noch als letzten Ausweg gegen eine angeblich gestohlene Wahl wertet. Den Unterschied macht in den Vereinigten Staaten die große Zahl weißer Evangelikaler, die sich nach jüngsten Studien des Pew Research Center immer weniger durch Gottesglauben und immer mehr durch Rassenhass auszeichnen. (Claus Leggewie)
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/der-politische-nihilismus-der-querdenker-bewegung-17689657.html?premium#void
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