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Zeit der Entscheidung

Vor vier Wochen hat Russland die Ukraine überfallen und die früheren Drohungen wahr gemacht. Für die Menschen in der Ukraine begann ein Horrortrip, für die ukrainische Regierung und das Militär die Zeit äußerster Bewährung, um sich zu behaupten und eine nationale Katastrophe abzuwenden. Menschen wuchsen als Leitfiguren und nationale Symbole über sich hinaus, wie die Brüder Wladimir und Vitali Klitschko, wie insbesondere der Präsident Wolodymyr Selenskyj. Seine frühere Rolle als beliebter Schauspieler in der Präsidentenserie „Diener des Volkes“ erschien auf einmal als makabere, surreale Vorwegnahme einer völlig anderen, unsäglich brutaleren Realität. Bisher hat er seine Bewährung in beispielloser Weise bestanden. Er wurde das Gesicht, die in den Medien täglich präsente Symbolfigur des heldenhaften Widerstands und Kampfes um nationale Selbstbehauptung gegenüber einem scheinbar übermächtigen Aggressor.

Inzwischen ist die ganze Ukraine viel mehr als nur ein bedrängtes, geschändetes Volk in Osteuropa, vermeintlich weit weg. Ihr blutiger und ausdauernder, offenbar überraschend erfolgreicher Kampf gegen die russischen Aggressoren, gegen Putin und seine Mordgesellen, die man nur noch als Kriegsverbrecher bezeichnen kann, sind zum Symbol von Freiheit und Demokratie geworden. Sie werden zum Fanal gegenüber einem Westen, der es sich allzu bequem gemacht hat und der von Putins grausamer Realität anscheinend völlig überrascht und bloßgestellt wurde. Bundeskanzler Scholz sprach zwar schnell von „Zeitenwende“, aber inzwischen sehen wir, wie wenig davon mehr ist als nur ein rasch hingeworfenes Wort. Die politische Elite in Europa und vor allem in Deutschland, und davon will ich reden, wurde kalt erwischt. Noch immer scheint man in einem ungläubigen Staunen zu verharren, wenn man manche Äußerungen in Politik und Medien liest und hört, die eigentlich nur davon träumen, zu bald wie möglich wieder zum business as usual zurückkehren zu können.

Nicht begriffen wird von vielen bisher, dass tatsächlich alle Karten in Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft neu gemischt werden. Zu allererst geht es um die möglichst eindeutige und wirksame Unterstützung der Verteidigungsfähigkeit der Ukraine, um Widerstand und Ausgrenzung des Aggressors und seiner Unterstützer, also um ein abruptes Ende der bisherigen Beziehungen zu Putin und dem Russland, das er repräsentiert. Sodann geht es aber gleichzeitig um eine Selbstbesinnung, um die Selbstbehauptung der freiheitlichen Demokratie, ihrer Lebensweise und Werte, um die Aufrechterhaltung des regelgebundenen Umgangs europäischer, atlantischer, kurz westlicher Staaten miteinander, um Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Gleichheit und Offenheit füreinander, um das, was unsere Lebenswelt in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs ausgemacht hat und noch ausmacht – weiterentwickelt, transformiert, ökologisch orientiert, gewiss, aber das eben als eine Kontinuität der Denk- und Lebensweisen für Generationen seit 1945 erfahrbar und unverzichtbar geworden ist.

Der russische Angriff galt genau dieser Lebensweise, dieser demokratischen Wirklichkeit. Putin fürchtet nicht die NATO, nicht die Ukraine, schrieb ein kundiger Kommentator, Putin fürchtet die Demokratie. Sie bedroht sein autokratisch-diktatorisches Herrschaftsmodell ebenso wie das von Xi Jinping. Putin führt einen Feldzug gegen „den Westen“, seine Politik, Wirtschaft und Lebensweise, und reisst in diesen blutig-ideologischen Krieg ganz Russland mit hinein. Stellvertretend erleidet die Ukraine die Zerstörung und Vernichtung, die Russland mit Putin an der Spitze eigentlich der freiheitlichen, demokratischen Welt des ‚Westens‘ (zu der auch Japan, Korea und Australien im Osten gehören) insgesamt zugedacht hat. Darum ist sein Krieg so zerstörerisch und total, zu unberechenbar im Blick auf die Grenzen, die er noch zu überschreiten bereit ist oder sogar schon zu überschreiten plant. Nicht nur als oberstem Kriegsverbrecher ist mit Putin kein Verhandeln, kein Deal, mehr möglich, – seine alles, was uns wert und wichtig ist, negierende autokratische Ideologie und diktatorische Gewaltpolitik ist es, mit der es keinerlei Übereinkunft, keinen Kompromiss geben kann. Welcher Art sollte auch ein Kompromiss sein zwischen einem Vergewaltiger und dem Opfer der Vergewaltigung, eine halbe Vergewaltigung? Hier gibt es nur absoluten Widerstand, Zurückweisung und Bekämpfung des Macht- und Gewaltanspruchs zerstörerischer Herrschaft der Unfreiheit, der Lüge, der Fakenews, der Leugnung, Täuschung, Verdächtigung, Desinformation, Verwirrung aller Worte und Taten. Es ist diese tatsächlich und tagtäglich durch Putins Russland geschehende „Umwertung aller Werte“, Verdrehung aller Fakten und Wahrheiten, der unser entschiedenes NEIN entgegenzusetzen ist.

Davon sind wir noch weit entfernt. Noch hat nur ein Teil der Verantwortlichen in Medien, Politik und Gesellschaft das Ausmaß der Erschütterung unserer Lebenswelt begriffen. Es geht um die Grundlagen, um die Basis des Verständnisses im Umgang miteinander, vor allem auch der Staaten und Organisationen miteinander, die tatsächlich ‚füreinander einstehen‘ sollten, wie es jetzt oft wohlklingend heißt. Es muss aber um mehr gehen als nur um Worte, mehr als nur um ein Zurechtrücken politischer Befindlichkeiten und Akzente. Gefordert ist ein klarer Realismus, eine grundlegende Neueinschätzung und Neuausrichtung unserer Politiken und Gesellschaften und alles, was uns darin hält und zusammenhält. Dann erst werden wir wissen, worum es uns gehen muss, was wir zu opfern bereit sein sollen, welchen Kampf wir aufnehmen müssen, gegen ‚Putin‘ und seine Gewaltphantasien, und hoffentlich noch rechtzeitig an der Seite der Menschen in der Ukraine und besonders an der Seite Präsident Selenskyjs, dessen Standfestigkeit wir und unsere Politiker/innen uns erst noch würdig und wert erweisen müssen. Freiheit und Demokratie sind nicht billig zu haben. Sie müssen mit Taten verteidigt und jeweils neu erworben werden.

25. März 2022 08:04 Sven Lemkemeyer @tagesspiegel Newsblog

Nur drei Tage nach dem Beginn von Putins Krieg in der Ukraine gab es für Bundeskanzler Olaf Scholz von den Bundestagsabgeordneten stehende Ovationen für sein Versprechen, die jährlichen Militärausgaben zu erhöhen, um die deutschen Nato-Verpflichtungen zu erfüllen. (…) Seitdem hat seine Koalition – kaum 100 Tage im Amt – damit begonnen, den Status quo der deutschen Nachkriegsordnung in Windeseile umzugestalten. Eine neue russische Gaspipeline nach Deutschland liegt ungenutzt und leer unter der Ostsee, während Berlin nach neuen, nicht-russischen Energiequellen Ausschau hält. Tabubrechende deutsche Waffenexporte in die Ukraine, vor sechs Wochen noch undenkbar, sind der neue Normalzustand. Aber das war der einfache Teil. Den Schwung aufrechtzuerhalten und die Erwartungen der Partner zu erfüllen, wird unendlich schwieriger sein. (…) Die Versuchung Deutschlands, sich in sein Schneckenhaus zurückzuziehen, ist immer da. Ob die Regierung Scholz die politische und öffentliche Unterstützung für das, was kommen wird, aufrechterhalten kann, hängt davon ab, ob sie ein überzeugendes Narrativ für die Unumgänglichkeit findet. Sonst könnte Olaf Scholz sein Land – und Europa seinen unverzichtbaren Partner – als Folge einer ängstlichen Nabelschau doch noch verlieren.

Kommentar in der in Dublin erscheinenden „Irish Times“

Für einen Moment sah es so aus, als habe der Überfall auf die Ukraine Klarheit in die Einstellung der Deutschen zu Russlands Herrscher gebracht. Es ist offensichtlich, wer diesen Krieg begonnen hat, wer im Recht und wer im Unrecht, wer Opfer und wer Täter ist. Die Raketen auf Wohnhäuser in ukrainischen Städten schienen schlagartig einen breiten Konsens darüber hergestellt zu haben, dass das Regime Wladimir Putins gemeingefährlich, aggressiv und eine existenzielle Be­drohung für die Demokratien in Eu­ropa ist. Kurze Zeit konnte man hoffen, jene Querfront, die das leugnet oder relativiert, werde so unbedeutend, dass man sich nicht mehr mit ihr befassen müsste.

Doch nach dem ersten Schock sind in der medialen Debatte in Deutschland schon wieder die vorübergehend verstummten Stimmen jener zu vernehmen, die dem Westen vorwerfen, er sei nicht auf russische Befindlichkeiten eingegangen; die vor einer Eskalation des Konflikts durch Waffenlieferungen an die Ukraine sowie zu harten Maßnahmen gegen Russland warnen; und die den Ukrainern raten, zur Vermeidung weiterer Op­fer ihren Widerstand aufzugeben.

Und man muss sich im Klaren darüber sein: Putins Regime bedroht auch uns. Wird es in diesem Krieg nicht geschlagen oder so geschwächt, dass es zu weiteren Aggressionen nicht mehr fähig ist, wird es in der Ukraine nicht haltmachen. Die Ukrainer kämpfen auch für unsere Freiheit.

Reinhart Veser, Es droht die Wiederholung der alten Fehler FAZ 24.03.2022

Lesetipps:

Gerd Koenen, Autokratischen Herrschern hilflos ausgeliefert, FAZ

Martin Voss, Wir müssen lernen, mit allem zu rechnen, @tagesspiegel


Update 29.03.2022

Das politische Desaster, dass wir gegenwärtig erleben, ist tatsächlich das Ergebnis mindestens der letzten 25 Jahre deutscher Regierungspolitik. Verantwortlich dafür sind vor allem die Bundeskanzler Schröder (SPD) und Merkel (CDU). Durch ihre langjährige Regierungsbeteiligung in der Großen Koalition müssen die SPD und ihr ehemaliger Vizekanzler und heutiger Kanzler Scholz genauso in Haftung genommen werden wie die CDU/CSU. Eine wirtschaftsliberale FDP und ökopazifistische Grüne haben maßgeblich ihr Scherflein dazu beigetragen. Im Grunde aber muss die gesamte deutsche Bevölkerung in Mithaftung genommen werden. Sie hat nämlich genau die bequeme, aber illusionäre Wohlfühlpolitik bekommen, die sie sich gewünscht und gewählt hat. Der deutsche Michel muss endlich aufwachen.

Siehe dazu besonders Udo di Fabio, Die Verteidigung eines freien Europas, FAZ plus


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