Kategorien
Freiheit Gesellschaft Politik

Pragmatischer Realismus

Kann ein pragmatischer Realismus „Verrat“ an der richtigen Sache bedeuten? In der derzeitigen aufgeheizten politischen Situation geraten sowohl bestimmte Klima-Positionen als auch bestimmte politische Positionen zum Russlandkrieg gegen die Ukraine unter Verdacht. Leider ist die Sache nicht so einfach, denn schon die gestellte Frage steckt voller Tücken. Was ist mit Pragmatismus gemeint, was mit Realismus? Welches ist die ‚richtige Position‘ und wie wird sie jeweils gefunden?

Man kann das scheinbare Dilemma etwas auflösen, wenn man beim Letzten anfängt: der „richtigen“ Position. Was ist denn richtig? Wer bestimmt das? Wodurch wird etwas Richtiges begründet oder gestützt? Dafür sind an erster Stelle Fakten zu nennen. Die Entwicklung der Klimadaten sind auch vor aller Modellierung im Wesentlichen unstrittig. Eine weltweite Erwärmung in einem Ausmaß und einer Geschwindigkeit, wie das in vergangenen Klimaperioden nicht nachweisbar ist, kann als Tatsache gelten. Modellierungen sind schon eine Art Prognose, mehr oder weniger sicher, mehr oder weniger datengestützt, mehr oder weniger aussagekräftig. Aussagen über die Zukunft bleiben immer mit erheblicher Unsicherheit behaftet. Das gilt auch für scheinbar unumstößliche Wahrheiten, die nur auf Prognosen beruhen. Sie gehören in den Bereich der Bewertungen und Folgerungen, die man daraus ableiten kann. Die Kriterien dafür sind aber stets in großem Umfang von sukjektiven Faktoren, Einstellungen, Meinungen, Kenntnissen der Rahmenbedingungen, Ausgangsdaten usw. geprägt. Spätestens hier hört es auf, dass es etwas eindeutig „Richtiges“ gibt.

Im Russlandkrieg nach dem Überfall auf die Ukraine wird es noch schwieriger. Eine ’neutrale‘ Position allein schon bei der Erhebung der Fakten ist nicht möglich, weil in diesem Falle Neutralität bereits eine inhaltliche, politische Position ist, die den Angreifer gleichberechtigt neben den Angegriffenen stellt, – ethisch unmöglich. Also wird man von einem deutschen, europäischen, westlichen Blickwinkel aus den Überfall als einen Akt der Aggression Russland ansehen, der weder durch die Ukraine noch durch Verbündete provoziert wurde. Klar ist, dass Putin dies anders sieht, allein schon zur Selbstrechtfertigung. Der Krieg in der Ukraine zeigt also, dass es eines Maßstabes bedarf, um sich dem „Richtigen“ überhaupt nähern zu können. Es werden dies internationale Verträge, Völkerrecht, UNO-Grundlagen, also die „regelbasierte Ordnung“, sein. Mit ihrer Hilfe lassen sich die Fakten der gewaltsamen Aggression erheben, – mittels Daten Dritter aus öffentlicher und geheimdienstlicher Aufklärung, Berichte von Beobachtern, Darstellungen der militärischen Institutionen auf ukrainischer und russischer Seite, beide letztere mit Vorbehalt, da alle militärischen Erklärungen und Bekanntgaben bereits Teil der jeweiligen Militärstrategie sein können und sind. Wissenschaftlich belegbare Daten sind also in diesem gesamten Bereich „Krieg in der Ukraine“ gegenwärtig nicht zu erhalten. Umso schwieriger die Bewertung und begründete Haltung dazu auf dem Hintergrund der Frage nach richtig und falsch.

„Zeitalter der Ungewissheit“ Universität Graz (c) Foto: Pete Linforth – Pixabay

Tatsächlich aber können in beiden Beispielen Realismus und Pragmatik eine große Rolle spielen. Beim Beispiel Klima wird die Bereitschaft einer Bevölkerung, entscheidende Veränderungn zu akzeptieren bzw. aktiv zu unterstützen, entscheidend dafür sein, dass die Klimaerwärmung bzw. der CO-Ausstoß weltweit überhaupt begrenzt wird (noch ist das nicht der Fall). Nicht Parolen von Aktivisten, sondern das Abwägen von realistischen politischen und gesellschaftlichen Möglichkeiten kann zu einer Politik führen, die zumindest deutliche Reaktionen auf die Klimaveränderung hervorbringen und umsetzen kann. In welchem Maß Pragmatik dabei leitend sein soll, was als Realismus gelten kann, was gesellschaftlich für akzeptabel gehalten wird, ist dann fortlaufend als Ergebnis eines Aushandlungsprozesses im öffentlichen Raum zu verfolgen. Es wird Beschleunigungen und Verzögerungen geben, wie das bei der Vielzahl der Akteure und Meinungen immer der Fall ist, aber es wird nicht die eine einzige, unumstrittene Maßnahme oder Richtung geben, die angeblich unumstößlicher Wahrheit folgt. Jeder Aushandlungsprozess ist pragmatisch und relativ. So heranzugehen nenne ich Realismus.

Im Fall des Krieges gegen die Ukraine ist es tatsächlich einfacher. Der Aggressor ist so deutlich im Unrecht, zugleich sind so deutlich und klar Positionen unseres westlichen Verständnisses von Freiheit, Selbstbestimmung und Pluralität („westliche Werte“) angegriffen, dass eine mehr oder minder gemeinsame einheitliche Antwort des Westens, Europas und Deutschlands gegen die russische Aggression und für die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine zwingend möglich erscheint. Auch dies entspricht einer Pragmatik, die nicht mehr von Wunschträumen („Deutschland ist nur noch von Freunden umgeben.“ – „Friedensdividende“ – „Wandel durch Handel“ – „Ende der Geschichte“) geprägt ist, sondern die auf reale Machtverhältnisse, Machtpositionen, Gewaltpotentiale und Interessen schaut. Daraus ergibt sich zwingend eine neue Politik im Innern und nach außen, die der Verteidigungsfähigkeit und Selbstbehauptung eine sehr viel größere Rolle zumessen wird, als das bisher der Fall war. Wer für die eigene Freiheit nicht zu kämpfen bereit ist, wird sie verlieren. „Dieser Krieg ist ein Verbrechen. Russland darf nicht gewinnen“, wird damit zum ethischen Postulat. In den Bereich des zu Erörternden und unterschiedlich zu Bewertenden gehören dann Maß und Ausmaß, Abwägen kurzfristigen eigener Nachteile (Öl-Embargo) gegenüber langfristigen Perspektiven (Diversifizierung der Energiebeschaffung) und der Anerkennung politischer Realtäten wie dem anhaltenden Gewaltpotential Russlands unter Putin und in ähnlicher Weise Chinas unter Xi Ping und ihrer imperialen Ausdehnungs- und Eroberungsstategien. Es ist pragmatischer Realismus, darauf alsbald konkrete neue Antworten zu finden und sie politisch zügig umzusetzen. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Und eine bequeme Ecke des Zuschauens gibt es nicht mehr. Auch das ist Realismus.

Im Übrigen ist nichts weniger angesagt als Pessimismus. Denn eine realitische Aufarbeitung der Fehler der Vergangenheit und eine pragmatische, wertebasierte Politik, die neue Möglichkeiten, Techniken und Chancen nutzt, hat gute Zukunftsausichten.

Doch selbst im Land mit seinen verblüffend präsenten verbohrten Ökopazifisten und korrumpierten Putin-Sympathisanten hat das Umdenken eingesetzt. Man will sich in vergleichsweise kurzer Zeit von russischen Lieferungen befreien. … Die demokratisch verfassten Systeme dagegen liegen nicht immer richtig, lernen aber am Ende schneller und steuern um in einem chaotischen Prozess, für den professionelle Beobachter vermutlich mehr Toleranz entwickeln sollten. … Gut an den schrecklichen Umständen ist auch, dass sie zu einem Realitätscheck zwingen. Vertrieben sind nicht nur in Deutschland gehegte Flausen, dass durch Handel Schurkenstaaten gezähmt werden. Sie werden es nicht. Gewachsen ist vor diesem Hintergrund zwangsläufig die Sensibilität dafür, dass globale Lieferketten brüchig sind und manchmal auch durch Sanktionen gebrochen werden müssen.

Wienand von Petersdorf, Es ist nicht alles schlecht, @faznet

.art