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Kultur beruht auf Sprache und Schrift als „geronnenem Geist“. Kulturelle Techniken und Träger verändern Einzelne und Gesellschaften. Die digitale Veränderung ist als kulturelle Weltveränderung zu begreifen und in „demokratischer“ Verantwortung zu gestalten.

In Zeiten medialer Umbrüche ist es gut, sich bestimmte kulturgeschichtliche Entwicklungen ins Gedächtnis zu rufen. Fragt man die Sprachgeschichtsforscher, so ist man für die Zeit vor der Schriftlichkeit auf Vermutungen bzw. Rückschlüsse angewiesen. Die (größte) indoeuropäische (indogermanische) Sprachfamilie lässt sich ca. 9000 Jahre zurück verfolgen, ähnlich ist es bei anderen Gruppen der Welt-Sprachfamilien, zum Beispiel der zweitgrößten, der sinotibetischen Sprachfamilie. Es gibt vorher gehende Sprachen, aber die Suche nach Proto-Sprachen oder gar einer einzigen menschlichen Protosprache bleibt weitgehend Spekulation. Immerhin lässt sich zum Beispiel das Baskische als Weiterentwicklung einer vor-indogermanischen europäischen Sprache identifizieren. Dass komplexe Sprachfähigkeit erst dem Homo sapiens eigen war und zu dessen Evolutionserfolg beigetragen hat, darf heute als gesichert gelten. Insofern ist dieser Evolutionserfolg zugleich ein Beispiel eines Entwicklungserfolges durch Kultur. Noch deutlicher wird dies, wenn wir auf die Entwicklung der Schrift sehen. Die ältesten uns bisher bekannten schriftlichen  Zeugnisse sind 6000 Jahre alt und stammen aus sumerischer Zeit (Uruk, 4000 v.C.) Von da war es noch ein weiter Weg bis zur entwickelten Laut- bzw. Buchstabenschrift. In Europa fand eine „Explosion“ der Schriftlichkeit erst durch das vom Phönizischen abgeleitete griechische Alphabet statt (um 1000 v.C.). In Verbindung mit dem Gebrauch von Schiefer- und Wachstäfelchen (für den Alltag) und Papyrus (für größere Dauerhaftigkeit) und schließlich Pergament (am dauerhaftesten, erst abgelöst durch die Papierherstellung) verließ die Schriftlichkeit die Exklusivität der Könige. In Europa wurde zuerst in Griechenland Schrift zur Kulturtechnik des Volkes.

Des „Volkes“ muss gleich wieder eingeschränkt werden. Natürlich konnte nicht jedermann lesen und schreiben, aber Schriftsprache wurde ein „Bildungsgut“ des städtischen Bürgertums. In Athen kann man dies auf das 7. – 6. Jahrhundert v.C. datieren. Das passt zeitlich in etwa zur ersten Schriftfassung der Bibel in Babylon während der sog. „babylonischen Gefangenschaft“  Israels (587 – 537 v.C.) in einer semitischen Buchstabenschrift. Seit dieser Zeit gibt es „Bücher“: Der Erfahrungsschatz einer Generation musstee nicht mehr nur ausschließlich mündlich tradiert werden, sondern konnte im Medium der Schrift als einem ‚geronnenen Gedächtnis‘ (Platon) aufbewahrt werden. Wie sehr die Besonderheit dieser neuen Kulturtechnik noch im Bewusstsein derer war, die sie nun anwandten, wird ebenfalls an Platon deutlich. Für ihn war die Schrift, wie er sagte / schrieb, nur eine „Stütze des Gedächtnisses“. Diese gewisse Reserviertheit gegenüber der Schriftlichkeit zeichnete auch Platons und anderer Zeitgenossen Weise des Philosophierens aus, wenn sie die mündliche Lehre und das Gespräch als das „Eigentliche“ bezeichneten („esoterisch“) und ihre Schriften, also all die wunderbaren platonischen Dialoge und Schriften, die uns fast vollständig erhalten sind, nur als unvollkommene Darstellungen ihrer „Weisheit“ für die Allgemeinheit, also die Nicht-Schüler und Nicht-Eingeweihten („exoterisch“) ansahen. Das Schriftliche wurde als geronnenes, fixiertes Wort durchaus als ambivalent und abstrahiert vom lebendigen, gesprochenen Wort wahrgenommen. Sie konnten noch nicht vollständig absehen, wenngleich sie es ahnten, welche Revolution der kulturellen Entwicklung durch Bücher, durch Gesetzes-Corpora, durch schriftlich fixierte Verträge hervorgerufen wurde. Aber es dauerte Jahrhunderte, bis Bücher als ein größerer Schatz denn Gold und Silber erachtet wurden wie bei den (muslimischen) Abbasiden des 8. bis 10. Jahrhunderts (Bagdad, Alexandria).

Eine weitere folgenschwere mediale Umwälzung geschah durch die Verbreitung der Kunst des Buchdruckes. Auch dies dauerte eine Weile, immerhin hatte Gutenberg seine berühmte Erfindung (Strittigkeit hin oder her) schon Mitte des 15. Jahrhunderts gemacht. Aber erst durch die kulturrevolutionären Ereignisse der Reformation wurde der Buchdruck, oder genauer der Druck von Flugblättern, Kampfschriften und Pamphleten, zu einer Art „Massenmedium“ der frühen Neuzeit. Auch hier muss sogleich eingeschränkt werden, dass mit „Massen“ wiederum nicht das breite Volk gemeint ist, sondern das allerdings gegenüber der Antike sehr viel breitere gebildete Stadtbürgertum. Der Buchdruck entwand die Schriftlichkeit der Exklusivität der Kirche und ihrer Klöster. „Bildung“, das heißt lesen und schreiben lernen, war eine Parole der Reformation. Beispielhaft dafür war M. Luthers Schrift „An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, dass sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen“ (1524). Die allererste Absicht der Reformatoren war, dass das „Volk“ die Bibel lesen können sollte, aber das Erlernen dieser Kulturtechnik entwickelte durchaus eine Eigendynamik, die weit über die Reformation hinaus führte. Die katholische Kirche wusste genau, was sie tat, als sie sich im Zeitalter der Gegenreformation gegen das allgemeine Lesen und Schreiben aussprach und Druck und Bücher wieder zu monopolisieren und zu indizieren trachtete. Sie pochte auf ihr verloren gehendes „Urheberrecht“ und die alleinige Deutungshoheit der Wirklichkeit. Es fruchtete nicht viel, verzögerte nur manches. In vielen protestantischen Landesteilen wurde schon früh die allgemeine Schulpflicht eingeführt (Straßburg, Pfalz-Zweibrücken, Württemberg), ehe sie ab 1717 für ganz Preußen per königlichem Dekret durchgesetzt wurde. Lesen und Schreiben war die Voraussetzung für eigenes Denken, für  die Lösung von reiner Tradition und vorgegebener Autorität, war die erste Stufe des „Ausgangs aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (I. Kant, Was ist Aufklärung?, 1784). Erst jetzt, seit der Aufklärung, kann man von einer wirklichen Alphabetisierung des Volkes bzw. einer „Demokratisierung der Bildung“ unter den europäischen Völkern sprechen. Nun, bis das alles umgesetzt und Wirklichkeit wurde, dauerte es weitere hundert Jahre. Erst im 19. und 20. Jahrhundert kann man von einem bis dahin nie erreichten Stand der Bildung und Ausbildung (fast) aller Schichten der Bevölkerung sprechen: Die Kulturtechnik des Lesens und Schreibens, des Buch- und Zeitungsdruckes hatte sich durchgesetzt. Ein wirkliches „Massenmedium“ war entstanden.

In der Folgezeit kam es zu weit schneller aufeinander folgenden technischen Veränderungen, die das gesprochene Wort noch einmal ganz anders „konservierten“ und zur sofortigen weltumspannenden Kommunikation nutzten: Telegraph, Telefon, Radio und schließlich das Fernsehen: Tele-Vision. All diese „Massenmedien“ und „modernen“ Kommunikationsmittel, die gerade einmal 150 Jahre alt sind, haben Kultur und Gesellschaft lokal wie international geprägt und verändert. Darüber wären noch Bücher zu schreiben und viele gründliche kulturgeschichtliche Untersuchungen anzustellen. Doch die Entwicklung beschleunigte sich noch einmal durch die Digitalisierung von Wort und Bild: Die „reale“ Welt, die „analoge“, wie man sich selbstbewusst abgrenzend sagt, schuf und schafft sich ihre digitale Vervielfältigung. Das Medium Internet und die Digitalisierung aller Produkte des Geistes schicken sich an, eine neue, weit folgenreichere Umwälzung in Gang zu setzen, die nicht ganz zu Unrecht mit der Durchsetzung des Buchdruckes verglichen wird, die aber vielleicht noch darüber hinaus geht.

Was ist nun aber das Neue und Kultur Verändernde? Die digitale Welt ist per se „grenzenlos“ und dank Internet „instant“ verfügbar. Noch nie war es möglich, Wort, Bild, Ton so schnell allgegenwärtig zu machen, wie es heute der Fall ist. Und ein weiteres, noch wesentlicheres Element: Die „digitale Welt“ (ich nenne es einmal recht unscharf verallgemeinernd so) steht nahezu jedem Menschen zu geringen Kosten weltweit zur Verfügung. Die „Demokratisierung“ kultureller Gegebenheiten und Errungenschaften, die dadurch eingeleitet wird, das heißt ihre allgemeine Verbreitung und nahezu grenzenlose Verfügbarkeit ist beispiellos. Dass dadurch einige Tradition und Autorität ins Wanken kommt, ist mehr als nahe liegend. Der Ruf nach mehr Transparenz, nach Mit-Wissen, Mit-Schreiben, Mit-Reden, Mit-Entscheiden wird nicht mehr zu unterdrücken sein. Es gibt gerade jetzt Ereignisse hierzulande, an denen sich dieses neue Streben und diese kulturelle Entgrenzung (in jeder Hinsicht!) wie an einem Symbol fest macht. Dies Symbol eingeforderter Öffentlichkeit und Transparenz, veränderter Rechte und Rechtfertigungen trägt die Buchstaben ACTA. Von der Sache her war das vielleicht weniger zu erwarten. De facto ist ACTA zu einem (weiteren) Symbol des kulturellen Aufbruchs des digitalen Zeitalters aus den Fesseln der „analogen“ Welt geworden. Große Worte? Ich denke nicht, denn es geht nicht nur um das Urheberrecht als solches, es geht um die Art und Weise, wie kulturelle Güter künftig unter den Bedingungen der Digitalisierung zu behandeln und zu „teilen“ sind. Die soeben erlebten Proteste zeigen das Gären in einer Generation, die sich die Möglichkeiten und Chancen digitaler Kommunikation und digital geteilter Kultur nicht mehr nehmen lassen will. Ein weiters, allerdings negatives Beispiel ist die Lage in Syrien. Massive gewaltsame Unterdrückung und völlige mediale Abschottung scheinen der herrschenden Clique das einzige noch mögliche Mittel zu sein, die alte Macht zu behaupten. Sie steht auf mordenden, aber tönernen Füßen.

Wie alles Neue hat auch diese Zeit und diese Entwicklung ihre Extreme, ihre einseitigen Heilsversprechen, ihre unerfüllbaren Wünsche und Hoffnungen. Aber dass manches über das Ziel hinaus schießt und vielleicht überzogen ist / wirkt, bedeutet ja nicht, dass der Streit und Kampf um die Richtung der Entwicklung einer Kultur des Digitalen nicht angemessen und berechtigt wäre. Die Philosophie der Griechen hat nicht die Gräuel des Peloponnesischen Krieges verhindert, der Buchdruck nicht den Dreißigjährigen Krieg, und die Aufklärung nicht zwei Weltkriege. Auch die digitale Welt wird nicht automatisch friedlicher und menschenfreundlicher werden, als es die bisherige war. Aber der Entwicklungsschub durch die Entwicklung des vernetzten Digitalen ist eben nicht nur ein Schub eines neuen „Massenmediums“, sondern eine Transformation kultureller Möglichkeiten: Gedanken und Gegenstände, Sachverhalte und Ideen, Ausdrucksformen und Willensbildungen, wie wir sie bisher noch nicht kannten in der Menschheitsgeschichte. Veränderungen brauchen ihre Zeit, und es wird dauern und noch mancherlei Brüche in den Umbrüchen geben, auch Reaktionen und Gegenbewegungen, ehe ein neuer kultureller, gesellschaftlicher und politischer Level erreicht werden kann. Zu hoffen ist, dass die Fehler, die dabei gemacht werde, nicht zu groß sind. Und fest zu halten ist, das auch diese Verwandlung der Kultur auf Sprache beruht, auf Schrift und Bild, Ton und Gestik, auf „geronnener Selbstäußerung“ des menschlichen Geistes. Die digitale Welt kann vieles bewegen und verändern, nur eines nicht: Wissen, Weisheit und Erfahrung sind immer nur im Einzelnen aktuell. Das Netz ersetzt nicht den Kopf, der dahinter steckt. Kultur bleibt sprachlich vermittelt. Es ist der Logos, den die alten Griechen so benannten, der das Besondere der Menschenwelt ausmacht.