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Anthropozän am Ende?

In umweltpolitischen Debatten und bei gesellschaftlichen Themen steht die Klimaveränderung mit ihren bedrohlichen Szenarien im Mittelpunkt. Es ist wie eine heranrollende Welle möglicherweise katastrophaler Auswirkungen auf alles, insbesondere menschliche Leben auf diesem Planeten. Vieles ist jetzt bereits zu spüren und an Ergebnissen zu messen: der Temperaturanstieg, das Abschmelzen der Gletscher, um nur das Fühlbarste und Sichtbarste zu nennen. Dennoch bleibt noch weit mehr an möglichen Auswirkungen im Ungewissen: Computermodelle künftiger Entwicklungen zum Beispiel der Atmosphäre und der Meeresströmungen sind noch keine Voraussagen der Zukunft, sondern Szenarien mit unterschiedlicher Bandbreite. Es kann heftiger, schneller und schlimmer kommen oder langsamer, weniger gravierend, oder noch ganz anders überraschend und verstörender als je gedacht. Man kennt die Zukunft der planetarischen Entwicklung der Klimata eben nicht, aber man erkennt sehr genau Tendenzen und Veränderungen, deren Auswirkungen nach bisherigem Wissensstand tiefgreifend und verheerend sein können.

Dabei geraten andere ökologische Auswirkungen und Bedrohungen aus dem Blick, zum Beispiel der Plastikverbrauch und der Artenschwund. Auch hier weiß man schon eine Menge Genaues, erkennt deutlich Tendenzen und Auswirkungen, die mindestens so gravierend sein werden wie der Klimawandel. Beim Plastikverbrauch ist in erster Linie an den Müll gedacht, obwohl auch die Herstellung aus fossilen Rohstoffen zu bedenken ist, beim Artensterben geht es um die schwindende Vielfalt im biologischen Genpool.

Plastikmüll findet sich inzwischen überall auf der Welt, selbst in entlegensten Regionen, und es sind nicht in erster Linie die störenden Plastikflaschen und Verpackungen an den Küsten dieser Welt, sondern der Abrieb in immer kleiner und feiner werdendes Mikroplastik. Es findet sich in allen Meeren, zunehmend in Sedimenten und schon längst in der Nahrungskette. Auswirkungen unbekannt, weil unerforscht, und bedrohlich weil irreversibel: Was sich da einmal verbreitet hat, geht von alleine kaum wieder weg – und wenn, dann ich Jahrtausenden oder erst in Jahrmillionen. Dass künstlich erzeugte Stoffe biologisch wirksam sind und potentiell kaum abschätzbare Schäden an Organismen generell einschließlich des Menschen anrichten können, ist bereits bekannt. Man weiß nur noch nicht genau, wie die Zusammenhänge und Wirkungen in Organismen ablaufen. Zuletzt wurden Bericht aus der Wissenschaft bekannt, dass Mikroplastik die Blut-Hirn-Schranke überwinden kann, bisher nur bei Mäusen nachgewiesen. Schwere gesundheitliche Beeinträchtigungen sind zumindest wahrscheinlich. Und vielmehr: Mikroplastik ist bereits jetzt derart in die Zusammenhänge des Lebens eingeschleust, dass nicht mehr die Frage ist, ob sie Organismen beeinflusst, sondern inwieweit und mit welchen fatalen Auswirkungen. Auch diese Entwicklung ist irreversibel und unvermeidlich. Dabei ist Plastikmüll ein lange bekanntes und immer wieder verdrängtes Problem weltweit. Auch die EU und Deutschland spielen dabei eine entscheidende und wenig rühmliche Rolle. Der Tagesspiegel berichtet ausführlich über das Ergebnis der Recherche des Journalistenteams „Investigate Europe“, das man nur als „verheerend“ zusammenfassen kann. Offenkundig ist der programmierte Recyclingkreislauf mehr Wunsch als Wirklichkeit – und die Gesellschaft wird über Sinn und Wirksamkeit des derzeitigen Müllsammelns und -trennens im Unklaren gelassen. Da ist noch nichts gut.

Ein Recyclingkreislauf voller Löcher: Europa versinkt in Joghurtbechern, Milchtüten und Shampooflaschen
Die EU will die Plastikproduktion massiv reduzieren und stattdessen mehr Altkunststoff recyceln. Doch auf dem Weg zur Kreislaufwirtschaft handelt sie zögerlich und setzt auf umstrittene Technologien.

Tagesspiegel 28.04.2023

Die drastisch zurückgehende Artenvielfalt bedroht den größten Schatz des ‚lebendigen‘ Planeten, den biologischen Genpool. Die gravierenden Auswirkungen werden kaum zur Kenntnis genommen und politisch nur am Rande diskutiert, als ginge es halt nur um ein paar Frösche oder Bienen. Weit gefehlt. Die Biodiversität ist nicht nur ein lebendes Vermächtnis und Gedächtnis, sondern eine in ihrem Wert kaum hoch genug einzuschätzende Ressource für die weitere Entwicklung aller Spezies und eben auch der Spezies Mensch. Denn der Mensch lebt nur im Zusammenhang allen Lebens auf diesem Planeten. Das ist keine mystische oder spirituelle Schwärmerei, sondern ein Grundtatbestand der einzigartigen Entwicklung des Lebens auf diesem Planeten. Die Webseite von ardalpha gibt zum Thema Biodiversität einen guten und weitreichenden Überblick. Sie zeigt aber auch, wieviel Forschung noch nötig ist, um unser Wissen auf den Stand zu bringen, um das Ausmaß der Auswirkungen beurteilen zu können und Aussagen darüber zu machen, wie rasch und wie umfangreich Schutzmaßnahmen erforderlich sind, um einen unwiederbringlichen Verlust zu verhindern. Die Uhr tickt auch hier, weil es um die Entwicklungsfähigkeit und Regenerationsfähigkeit der biologischen Systeme auf diesem Planeten geht. Der stete Fortgang der Evolution könnte auf der Basis schwindender Arten genauso bedrohliche Auswirkungen haben wie der Klimawandel. Auch hier ist die Entwicklung oft bereits irreversibel, Jedoch gibt es hier kaum Kipppunkte, vielmehr ist der Artenschwund dauerhaft und schleichend: „Es ist also mehr ein stilles Sterben, das sich gerade vollzieht.“ *) Ein deutliches Anzeichen ist es, und auch im Kleinen erfahrbar, wie allein in unserem Land die Insekten verschwinden und mit ihnen die Vögel und ihr Gesang. Wer aufmerksam in diesen Frühlingswochen durch Feld, Flur und Garten geht, kann das selber feststellen.

Es gibt also genug Anlass, den einseitigen Blick auf den Klimawandel auszuweiten. Letztlich geht es bei den drei hier genannten Bereichen Klima, Plastik, Arten um miteinander zusammenhängende Veränderungen, die der „industriellen Revolution“ in den vergangenen 200 Jahren zuzuschreiben sind. Der Mensch hat hier seine größten Potentiale entwickelt und Unglaubliches geleistet in Wissenschaft und Technik, man denke nur an den Fortschritt in der Medizin. Aber diese „Erfolgsgeschichte“, wenn sie denn langfristig eine ist, hat einen hohen Preis, der erst heute allmählich offensichtlich wird und als Rechnung der Menschheit präsentiert wird. Die sozialen Kosten des Kolonialismus sind hier noch gar nicht berücksichtigt. Nun lässt sich das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen, aber Zusammenhänge und Auswirkungen müssen erhellt und modelliert werden und die Öffentlichkeit beschäftigen. Ob die erforderlichen Maßnahmen zur CO2-Vermeidung greifen und auch bezahlt werden können, ob dabei Wohlstand und Arbeitsplätze bedroht werden usw., ist nur die eine unmittelbar die Gemüter bewegende Frage. Ob es aber eine positive Zukunft für die Menschheit auf dieser Welt gibt, inwieweit KI und weitere technische Errungenschaften dabei helfen oder nur verschlimmbessern können, ist noch nicht absehbar. Die Erwartung, dass der Mensch, der sich evolutionär als äußerst anpassungsfähig erwiesen hat, sich auch diesmal erfolgreich wird anpassen können, ist nicht mehr als eine Hoffnung. 2 Millionen Jahre hat der Homo sapiens zu seiner Entwicklung gebraucht, erdgeschichtlich, planetarisch ein Wimpernschlag. Der Mensch kam, entwickelte sich unter einmalig günstigen Bedingungen, – und kann auch wieder verschwinden. Das vermutlich einmalige Experiment eines lebendigen Planeten innerhalb der Weite unseres Kosmos könnte kosmologisch folgenlos zu Ende gehen. Das wäre dann die vierte und letzte „Kränkung“ der Neuzeit: Der Mensch steht nicht im Mittelpunkt des Kosmos, er hat sich wie alles Leben evolutionär entwickelt, er ist in seiner psychophysischen Verfassung tief mit den Strukturen des Lebens verbunden – und der Mensch kann auch wieder vergehen und das Experiment humanen Lebens einen Episode bleiben. Noch haben wir es zumindest teilweise in der Hand, die gravierenden Fehlentwicklungen und Auswirkung des „Anthropozäns“ zu begrenzen und zu korrigieren.


*) Katrin Böhning-Gaese, Friederike Bauer, Vom Verschwinden der Arten. Der Kampf um die Zukunft der Menschheit, Klett-Cotta 2023, S. 38
Sachkundig, Vielzahl von Quellen und Nachweisen, empfehlenswert.

Noch genießt das Thema Biodiversität in der breiten Öffentlichkeit nicht die Aufmerksamkeit, die ihm angesichts seiner existenziellen Bedeutung eigentlich zukommen müsste. Zwar lassen Nachrichten vom Insektensterben oder vom Verlust tropischer Wälder immer wieder aufhorchen, aber Artenvielfalt ist trotz des Gipfels von Montreal bis heute eher ein Randthema. Ihm wird längst nicht die Bedeutung des Klimawandels beigemessen, dessen Gefahren mittlerweile allgemein anerkannt sind. Dabei hat der Verlust an Biodiversität mindestens ähnliche Vernichtungskraft wie der Anstieg der Erdtemperatur, vielleicht sogar noch größere: Der Klimawandel entscheidet darüber, WIE wir leben, wie wir mit mehr Wirbelstürmen, größerer Trockenheit, neuen Krankheiten oder weniger produktivem Land zurechtkommen. Der Artenschwund entscheidet darüber, OB wir leben.

ebd. S. 25f.

Update vom 09.05.2023

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