Als der französische Gelehrte Alexis de Tocqueville vor fast 200 Jahren die Vereinigten Staaten von Amerika besuchte, war er von der jungen Demokratie nicht nur begeistert. Anders als in den europäischen Monarchien herrsche dort zwar das Volk über sich selbst, doch sei damit immer die Gefahr eines Machtmissbrauchs der Mehrheit auf Kosten der im demokratischen Wettbewerb unterlegenen Minderheiten gegeben. Oder wie Tocqueville selbst es formulierte: „Die Mehrheit umspannt in Amerika das Denken mit einem erschreckenden Ring.“
… und heute:
Die Demokratie lebt davon, dass sie Minderheiten schützt. Aber es läuft etwas falsch, wenn sich die Mehrheit von einer – lautstarken – Minderheit die Agenda diktieren lässt.
Mark Schieritz, Die Zeit 2021
Tyrannei der Minderheit
Zur Zukunft der amerikanischen Demokratie
Steven Levitsky, Daniel Ziblatt
28.06.2024 / bpb Aus Politik und Zeitgeschichte
Während die Denker des 19. Jahrhunderts die größte Gefahr für die Demokratie in der „Tyrannei der Mehrheit“ erblickten, ist die Demokratie in den Vereinigten Staaten heute vor allem von einer „Tyrannei der Minderheit“ bedroht. Nötig sind Verfassungsreformen.
Dies führt uns zu einer beunruhigenden Wahrheit. Das Problem, mit dem wir es heute zu tun haben, ist zum Teil in etwas begründet, das viele von uns verehren: in unserer Verfassung. Die Vereinigten Staaten besitzen die älteste geschriebene Verfassung der Welt. Als brillantes Werk politischer Handwerkskunst bildet sie das Fundament von Stabilität und Prosperität und hat über mehr als zwei Jahrhunderte hinweg die Macht allzu ehrgeiziger Präsidenten in Schach gehalten. Aber ihre Mängel gefährden heute unsere Demokratie. Als Produkt einer vordemokratischen Zeit erlaubt es die US-Verfassung parteilichen Minderheiten, die Mehrheit zu behindern und manchmal sogar zu regieren. Institutionen, die solche Minderheiten ermächtigen, können zu Instrumenten der Minderheitsherrschaft werden. Und besonders gefährlich sind sie in den Händen von extremistischen oder antidemokratischen Minderheiten.
…
Diese [vorher ausgeführten] Reformen hätten eine simple, aber wirkmächtige Folge: Sie würden Mehrheiten ermöglichen, an die Macht zu gelangen und zu regieren. Sie würden nicht nur eine Minderheitsherrschaft verhindern, sondern auch durch die Entfesselung der Wettbewerbsdynamik der Demokratie verfassungsmäßigen Protektionismus beseitigen.
Institutionen, die sich nicht anpassen, können noch Jahre oder Jahrzehnte weiterhinken. Aber am Ende werden sie altersschwach, und schließlich werden sie die Legitimität des politischen Systems untergraben. Dies ist im 21. Jahrhundert in den Vereinigten Staaten geschehen.
Man sieht sofort: Das betrifft nicht nur die Vereinigten Staaten von Amerika. Dafür, wie man mit Mitteln der Demokratie demokratische Institutionen aushöhlen und zu Instrumenten einer Minderheit bzw. einer Partei umfunktionieren kann, gibt es auch in Europa Beispiele: das Polen der PIS oder das heutige Ungarn des Autokraten Viktor Orbán. Aktuell steht die Abschaffung der Demokratie auf der Basis des Grundgesetzes („Parteienstaat“) auf der Agenda der AfD. Es gibt kaum Zweifel, dass sie damit Ernst macht, sofern sie als Mitglied einer (vorerst nur: Landes-) Regierung dafür Gelegenheit bekommt. Beunruhigend ist, dass diese offene Erklärung des Willens zum illiberalen, autoritären Umbau der Bundesrepublik Deutschland Wähler und Wählerinnen nicht nur nicht abschreckt, sondern offenbar ausdrücklich anzieht. Dies gilt sogar besonders für junge Menschen:
Datenanalyse zu den Landtagswahlen im Osten: Wird die AfD zur Partei der Jugend? fragt der Tagesspiegel.
AfD-Strategie erfolgreich – Warum Jungwähler im Osten rechtsextrem wählen ntv.de vom 4.9.2024
Junge Menschen in Thüringen: Eine Disco voller AfD-Wähler? @tagesspiegel plus 11.09.2024
38 Prozent der 18- bis 24-Jährigen haben in Thüringen die AfD gewählt, 16 Prozent die Linke. Was macht die Spaltung mit der Generation? Eine Reportage aus dem Erfurter Nachtleben.
Junge Menschen in NRW: Darum wählen wir die AfD
Essen. Die AfD wird bei der Gen Z immer beliebter. Angst vor Altersarmut, Migration, Kontrollverlust: Das sagen Jungwähler aus NRW und ein Experte. Westfalenpost (Funke-Medien) vom 9.9.2024
Damit sind einige Stichworte genannt, warum eine offen antiliberale und antipluralistische Partei für Menschen unterschiedlichen Alters attraktiv wird. Weitergehende Analysen gibt es zu Hauf, – mit oftmals recht gegensätzlichen Ergebnissen und Begründungen. Da gibt es viele Facetten der Ursachen und Gründe. Gemeinsam ist ihnen die zunehmende gesellschaftliche Unfähigkeit, die Unklarheit von globalen Verhältnissen und die Uneindeutigkeit von politischem Handeln (einschließlich des Zögerns zu handeln) auszuhalten und nach Lösungen zu suchen, die nichts anderes als Kompromisse sein können:
- zwischen unterschiedlichen Meinungen
- zwischen gegensätzlichen Strategien
- zwischen offenen oder verdeckten Zielkonflikten
- zwischen Mehrheiten und Minderheiten
- zwischen Wissenschaft, ihren Fähigkeiten und Grenzen
- zwischen Werten und Interessen
- zwischen Gewohnheiten und Ungewohntem
- zwischen dem Erreichen von Zielen und den Kollateralschäden
- zwischen Wahrheit und Ambivalenz, Unklarheit und Unwägbarkeit.
Für all diese Antagonismen sind Kompromisses die einzig möglichen Wege, wenn es nicht zum Kampf aller gegen alle und zum Sieg der faktisch Stärksten / Schnellsten / Raffiniertesten kommen soll. Zu Kompromissen aber führen nur Gespräche und Verhandlungen, Zuhören und Geltenlassen, Offenheit für ungewohnte Wege, – aber auch keine Selbstaufgabe und Preisgabe liberaler und demokratischer Prinzipien! Freund – Feind- Denken ist zwar meist das Ende der Möglichkeit von Verständigung, jedoch gibt es Grenzen, jenseits derer jeder freie Diskurs aufhört. Wer die Demokratie abschaffen und durch eine autoritäre Parteien- und Führerherrschaft ersetzen will, wer Rechtsstaatlichkeit und Parlamentarismus, Toleranz und kulturelle Vielfalt ablehnt und bekämpft, stellt sich jenseits demokratischer Kompromissmöglichkeit. Eine kämpferische offene, liberale Demokratie und freie, vielfältige Gesellschaft darf ihren Feinden keinen Raum geben! Vielmehr müssen die Sorgen und Fragen, die Verunsicherungen der jungen Generation ernst genommen werden. Dazu muss sich die Politik viel stärker an der jungen Generation statt an den Rentenempfängern orientieren.
Die liberale Demokratie und die freie Gesellschaft stehen unter Stress, auf die vielen Herausforderungen der Gegenwart z.B.
- Klimaveränderung
- Dekarbonisierung
- Migration
- multikulturelle Vielfalt
- Globalisierung
- Nationalisierung
- Multipolarität
- Autoritarismus
- Altersarmut
- Deindustrialisierung
- Souveränität betr KI
- digitale Revolution
- globale Machtverschiebungen
mit deutlichen Positionen zu antworten und sich mit Perspektiven gemeinsamen Handelns in den Dialog zu begeben. Klar, es müssen mehrheitsfähige Lösungen her, auch wenn es schwerfällt. Mit einem Wort: Unsere Demokratie braucht den MUT der Demokraten!
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