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Fortschritt und Verweigerung

Fortschritt ist eine zwiespältige Kategorie. „Online“ zu sein scheint heute unvermeidlich. Aber den „Onlinern“ stellen sich „Offliner“ entgegen. Noch ist es zu früh, von einer Gegenbewegung zu sprechen. Aber was nicht ist, kann schnell werden. – Ein Plädoyer für mehr kritische Distanz.

Mit dem Fortschritt ist das so eine Sache.  Der Ausdruck unterstellt ein ‚Fort-Schreiten‘, wobei das „fort“ ja nur eine Distanzierung, ein ‚weg von‘ ausdrückt. Einen Schritt tun zeigt eigentlich dasselbe an: sich von einer Stelle weg bewegen. Es wird weder etwas über die Geschwindigkeit noch über die Richtung ausgesagt, in die man sich bewegt. Auch ist damit noch nichts über die Qualität der Bewegung ausgesagt. ‚Fortschritt‘ ist also von der reinen Wortbedeutung her ein wertneutraler Begriff.

Dem ist aber im Sprachgebrauch des Begriffes ‚Fortschritt‘ mitnichten so. Umgangssprachlich wird Fortschritt meist mit ‚Innovation‘ oder ‚Verbesserung‘ konnotiert. Kulturphilosophisch geht dieser positive Gebrauch des Wortes auf den Fortschrittsgedanken der Aufklärung zurück. Der Mensch entwickele sich nach den aufklärerischen Ideen durch seinen Entschluss, sich aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit zu befreien (Kant), stetig ’nach oben‘, also weiter ‚fort‘ zu etwas Besserem, Höherem, womöglich ihm Zukommenden, ihm Bestimmten.  Die Geschichte wird danach als lineare Aufwärtsentwicklung gesehen, sei es nur ‚immer besser, immer schneller, immer weiter‘ (optimistisch), sei es hin auf ein vermutetes oder gedachtes Ziel (teleologisch) oder naturhaft zwangsläufig (evolutionär).

Zwei Weltkriege und mancherlei andere Katastrophen haben den Fortschrittsoptimismus zwar desavouiert, aber nicht beseitigen können. Wir haben ihn heute im Wesentlichen technologisch übersetzt: Fortschritt ist dann gleich bessere Technik, mehr Fertigkeiten, neue technische Möglichkeiten. Über einen Fortschrittsoptimismus in kultureller oder moralischer Hinsicht besteht eher Zweifel. Wird vom Fortschritt im Zusammenhang des Prozesses der Globalisierung gesprochen, dann wird der Begriff erst recht ambivalent. Es stellt sich dann die Frage nach den Werten und Zielen, die man mit einem positiven ‚Fortschritt‘ verbinden möchte. Da gibt es zwischen der Chefetage der Deutschen Bank und der Occupy-Bewegung naturgemäß Differenzen.

Das durch einen Tsunami verursachte Unglück im Kernkraftwerk Fukushima, aber viele Jahrzehnte früher schon das Giftunglück von Seveso (unbekannt? hier gibts Infos), die Müllverklappung in den Ozeanen, schließlich Schweinepest und Rinderwahn haben die Zweifel hinsichtlich der allumfassenden technischen Machbarkeit erheblich geweckt und bestärkt. Die Fragwürdigkeit von Großprojekten der Infratstruktur, seien es Bahnhöfe, Flughäfen oder Schnellstraßen, ja auch Stromtrassen und Schienenstrecken, wird vor allem von Anliegern und Betroffenen, aber eben nicht nur von diesen, betont. Statt einer ‚Fortschrittsgläubigkeit‘ mit einer inkriminierten Gigantomanie wird dann der Langsamkeit, der Natürlichkeit, der ‚Nachhaltigkeit‘ (das Modewort dieses beginnenden Jahrhunderts) das Wort geredet. BIO ist in jeder Hinsicht (und fast zu jedem Preis) positiv besetzt und attraktiv, „fleischlos“ essen ist chic geworden, sogar Veganer erfreuen sich der Aufmerksamkeit einer trendbewussten Öffentlichkeit. Die Frage ist also unüberhörbar gestellt: Technologischer Fortschritt – wohin? wozu? zu welchem Preis? Nicht erst Rousseau hat ja den Schlachtruf „Zurück zur Natur“ geprägt, sondern es ist altes stoisches Gedankengut, vom „Leben im Einklang mit der Natur“ zu sprechen. Ob es sich dabei um die wirkliche Natur oder um ein idealisiertes Traumbild von Natur handelt, sei dahin gestellt.

Eine ähnliche Skepsis gegenüber einer umgebremsten Entwicklung, eines kapitalgetriebenen Fortschritts,  scheint sich mir heute gegenüber den digitalen Entwicklungen abzuzeichnen. Von den einen nahezu als Mittel auf dem Weg zum kommunikativen Paradies hoch gelobt, von den anderen als Vergewaltigung und Preisgabe der Privatsphäre verteufelt, ist das Internet fast zum Inbegriff des modernen Zwiespalts gegenüber dem ‚Fortschritt‘ geworden. Den „Onlinern“ stellen sich, man lese und staune, gezielt und bewusst „Offliner“ entgegen, die auf Smartphones, Facebook und andere Segnungen medialer Technik bewusst verzichten. Wird bisweilen von der „technologischen Lücke“ der 25 % bis 30 % gesprochen, die noch (!) nicht regelmäßig oder ständig online sind, so suggeriert dies sofort den Anspruch, dass diese Lücke so schnell wie möglich zu schließen sei. Rasche Umstellung auf Online-Shopping, Online-Banking, Online-Verwaltung in den Komunen, werde diesen Teil der Bevölkerung schon bald zu ihrem Glück zwingen. Oder ist es doch nur ein riesiger Marketing-Trick? Zumindest bleibt es ja mehr als fragwürdig, dass zum Beispiel einem eBook-Käufer sehr viel weniger Rechte ‚gewährt‘ werden als dem Käufer eines gedruckten Buches. Und es gibt viele solcher Beispiele (CD gegen Download; Briefgeheimnis gegen Email u.v.a.m.)

In den fünfziger und sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gab es die überzeugten Fernseh-Verweigerer. Sie sind im Laufe der Zeit zu einer marginalen Gruppe (von Anthroposophen) geschmolzen. Doch die Zeiten und Kommunikations- und Multiplikationsformen haben sich gewandelt. Es sollte mich nicht wundern, wenn die Offliner sich zu einer Bewegung formieren, die gegen die fortschreitende Digitalisierung und Vernetzung der Lebenswelt angehen durch Verweigerung. Zumindest könnte eine solche Bewegung zu recht die Frage nach dem Wohin, also nach dem Sinn und Zweck der Digitalisierung stellen. Dass eine Sache möglich ist und dass sie Schnelligkeit verspricht, ist ja noch kein inhaltliches Argument. Die Netz-Träumereien der „Piraten“ sind eben nur die eine Seite der möglichen technischen Entwicklung. Man wird sehen, welche blinde Flecken sich in dieser enthusiastischen Internet-Bewegung noch zeigen werden. Etwas mehr kritische Reserve ist wünschenswert. Vor allem auch die Fragen: „Wem nützt es? Inwiefern brauche ich das?“ sind immer angebracht. Kritische Distanz und ein sachkundiges Urteil sind vonnöten, wenn Entwicklungen ‚zu schnell‘ fortschreiten und ‚alternativlos‘ zu sein vorgeben. Es geht nicht nur um die Kultivierung der Langsamkeit, nicht nur um den medialen Graben (und entsprechende Grabenkämpfe) in der globalisierten Welt, nicht nur um Datenschutz und Urheberrecht. Um all diese wichtigen Dinge geht es in der Tat auch. Es geht aber vor allem um Weichenstellungen für eine Welt, in der künftige Generationen menschlich (!) leben möchten, eine Welt, die hoffentlich auch noch irgendwie funktioniert, wenn es einen größeren Stromausfall gibt (was zu erwarten ist).

Wenn  man nicht gerade im Fahrstuhl fest steckt, könnte man dann ja ein gutes Buch, gedruckt versteht sich, lesen…