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Flurschaden

Das Allgäu – ein Ferienland aus dem Bilderbuch. Damit wird gern geworben. Im Frühjahr heißt es aber auch: Allgäuland = Gülleland. Denn es stinkt wieder zum Himmel. Und nicht nur das. In der Idylle gibt es mancherlei Flurschaden. Darüber spricht man seltener.

Das Allgäu ist schön. Besonders das obere Allgäu mit den grünen Wiesen, verstreuten Wäldern und funkelnden Seen vor der imposanten Alpenkulisse begeistert immer wieder des Urlaubers Herz. Jedes Jahr werden es mehr. Im vergangenen Jahr waren es 2,8 Millionen Gäste mit fast 11 Millionen Übernachtungen, eine Steigerung innerhalb eines Jahres um 5 %. Das lässt sich sehen. Postkarten und Fotos aus dem Allgäu passen alle ins Bilderbuch mit saftigen Wiesen und braunen Kühen darauf. Herrlich. Die Landwirtschaft ist Teil der Allgäuer Tradition und eine Attraktion für den Tourismus, heißt es. Familien aus den Städten können hier in malerischer Landschaft ursprüngliche Natur erleben mit Bauernhof, Stall und vielen Tieren. So liest man es in den Prospekten, und bei den bäuerlichen Ferienhöfen stimmt das ja auch. Ziege, Schaf und Kaninchen werden extra für die Touristenkinder gehalten. Und dann die gute Allgäuer Milch und der Allgäuer Bergkäse! Die Milchwirtschaft hat eine starke Lobby und ist tatsächlich so etwas wie die „heilige Kuh“ des Allgäu.

Denn diese malerische  Bilderbuchlandschaft hat auch eine Kehrseite. Über die spricht die Tourismusabteilung der Kurorte natürlich nicht. Selbst in den Zeitungen findet man selten Kritisches. Man muss schon genau hinschauen. In einem Bericht in der Allgäuer Zeitung über die jüngste Vogelzählung fand sich (im gedruckten Text) in einem Satz der Hinweis, dass immer mehr heimische Vögel wegen Nahrungsmangels aus den freien Fluren verschwinden und in den städtischen und dörflichen Gärten ein Auskommen suchen. In einer anderen Ausgabe der AZ (06.03.2012) ist von einem „dramatischen Rückgang von … Grünland und damit verbundenem Artenverlust“ die Rede. Als Ursache wird der hohe Flächenverbrauch für Wohnen und Infrastruktur genannt, der in Bayern während der letzten 40 Jahre zu einer Schrumpfung des Grünlandes von 1,6 Mio. auf 1,1 Mio. Hektar geführt habe. Dass ungefähr im selben Zeitraum die Bevölkerung in Bayern von 8,5 Millionen auf heute knapp 12,6 Millionen Menschen, also um mehr als 40 %, gewachsen ist, wird nicht erklärt. Nur in einem Satz wird erwähnt, dass die „intensivierte Bewirtschaftung des Grünlandes …einen Qualitätsverlust“ bedeute. Mehr an Kritik ist der Allgäuer Milchlobby wohl nicht zuzumuten. Dabei trägt die intensive Landwirtschaft und hier besonders die Milchwirtschaft einen Hauptanteil daran, dass die Allgäuer Wiesen zu „Grünfutter-Monokulturen“ veröden, die Wildtieren kaum Lebensraum bieten. Und deren Gülle stinkt nicht nur im Frühjahr, sondern praktisch ganzjährig zum Himmel. Blumenwiesen? Bütenpracht? Vogelgezwitscher? Artenvielfalt? – Fehlanzeige.

Das alles findet man nur im Hochgebirge, dort, wo keine intensive Nutzung möglich ist. Die Blumen der Grünfutter-Wiesen bestehen überwiegend aus Klee, Löwenzahn und Kerbel, den Liebhabern von reichlich Stickstoff. Genau dies trägt zur Monotonie der Allgäuer Wiesenlandschaft bei. Die kleinen Waldgebiete dazwischen bestehen zudem noch überwiegend aus des Waldbesitzers „Brotbaum“, der Fichte – finstere „Spaghetti-Wälder“ also. Gäbe es da nicht die Alpenkulisse, wäre es eine sehr triste und langweilige Landschaft, dies Allgäuer Voralpenland! Das eintönige Grün gaukelt „buntes“ Leben nur noch vor. Auch die typischen braunen Allgäuer Kühe tragen fast nur noch in den Fotokalendern Hörner. Den so verunstalteten Rinderköpfen wird der Hornansatz aus Gründen der Effektivität (kleinere Stallplätze, mehr Vieh je Stall) frühzeitig weg gebrannt. Die derart zurecht gestutzten Kälber passen nicht so recht zur besungenen Idylle. Und die berühmte Allgäuer Kuh – ist schon längst gar kein Allgäuer Rind mehr. Überhaupt ist die Milchviehhaltung eine recht junge Erscheinung. Schauen wir mal kurz in die Geschichte.

Im Allgäu-Museum in Kempten wird die Geschichte des Allgäu sehr anschaulich dargestellt. Verwundert erfährt man dort, dass die typische Farbe des Allgäu lange Zeit blau war: Das „blaue“ Allgäu, denn das Allgäu war über Jahrhunderte geprägt vom Flachsanbau. Und der Flachs blüht blau! Er passte als genügsame Pflanze zu den mageren Böden des Alpenvorlandes. Die Eiszeiten haben hier in verschiedenen Schüben große Moränen vor sich und unter sich hergeschoben, besonders der Iller-Gletscher. Er hat vom Allgäuer Hauptkamm Geröll, zu Kies und Sand gemahlen und in riesigen Schutthügeln im Vorland abgelagert. Man sieht diese Endmoränen und teilweise auch die darunter liegernde Molasse überall, wo die Graskrume abgebaggert oder abgerutscht ist wie in zahlreichen Tobeln (=Geländeeinschnitte). Das komprimierte Material ist zu „Nagelfluh“ verdichtet. In jedem Falle ist dies ein sehr wasserdurchlässiger Boden, der kaum Humus gebildet hat, also nährstoffarm ist. Man sieht es deutlich, wenn man heute auf der A7 von Memmingen aus den Ausläufern der Donauebene nach Kempten „herauf“ kommt: Hinter Bad Grönenbach hört die Feldwirtschaft abrupt auf und die Wiesenwirtschaft dominiert. Grund dafür ist nicht nur die Meereshöhe, die zwischen etwa 600 und 800 m keine Feldwirtschaft mehr erlauben würde, sondern vor allem der magere Boden, der kaum Nährstoffe enthält und dessen Humusschicht dünn ist. Magerwiesen würden hier also dominieren, wie sie es Jahrhunderte taten dort, wo kein Flachs angebaut wurde. Diese Magerwiesen waren naturgemäß blütenreich, aber eine dürre Grundlage für die Bauern. Bergbauer im Allgäu zu sein bedeutete ein hartes Leben knapp über der absoluten Armutsgrenze. Von Milchvieh keine Spur, bestenfalls ein paar Ziegen bevölkerten den Stall des einfachen Allgäuer Bauern. Und Flachs hielt ihn am Leben neben Holz und, wo es das gab, Erz (wie die Erzgruben im Grünten zeigen).

In einer beeindruckenden Fotoausstellung im Kemptener Alpin-Museum „BergLeben“ (2010) der Allgäuer Fotografin Erika Groth-Schmachtenberger (1906 – 1992) wird das harte und entbehrungsreiche Leben der Allgäuer Bergbauern bildhaft deutlich. Wenn auch noch in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts von den steilsten Hängen des Grünten unter äußerster körperlicher Anstrengung Heu geerntet wurde, dann nicht wegen der „Landschaftspflege“ oder irgendwelcher Extrem-Gelüste, sondern weil die schlichte Not dazu trieb, jede nur erreichbare Wiese zu ernten, denn die Winter waren lang und kalt, und die Weiden brachten nur wenig Ertrag. Als Mitte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der billige Baumwoll-Import mit Dampfschiffen aus Übersee den Flachsanbau gänzlich zum Erliegen brachte, fingen im Allgäu Notzeiten an. Die Waldwirtschaft und ehedem der Erzabbau  konnten keine ausreichende Lebensgrundlage mehrbieten, und die Viehwirtschaft war ohne neue Impulse noch zu gering. Das Bäuerliche blieb lange Zeit abgesehen von wenigen Großbauern in begünstigten Tallagen karge Subsistenzwirtschaft. Welcher Bauer sich dann neben den Ziegen und Schafen ein paar Kühe leisten konnte (und sie auch im Winter ernähren konnte!), der gehörte schon zu den Glücklicheren. Noch war die Allgäuer Milch kein Begriff! Die Umstellung auf Viehhaltung und Milchwirtschaft war aus dieser Not geboren, und bedurfte einiger Pioniere wie des Schweizer Sennermeisters Johann Althaus in Sonthofen.

Auch die Anfänge des Tourismus waren eher bedächtig, in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts ging es dann allmählich richtig los: „Sommerfrische“ für die Städter. Und so blieb es dann für viele Jahrzehnte bei mehreren Standbeinen für das Allgäu: Vermehrte Viehhaltung mit Milchwirtschaft (braunes Allgäuer Rind; Alp-Bewirtschaftung), Holzwirtschaft und Fremdenverkehr. Zwischen den Weltkriegen, in den „Goldenen Zwanzigern“, wuchs Oberstdorf bereits zu einem ansehnlichen Kurort mit Wintersportbetrieb heran; die erste Sprungschanze am Schattenberg wird 1924 errichtet. 1929 zählt der dortige Fremdenverkehrsverband 600.000 Übernachtungen! Aber der richtige Schub erreichte das Allgäu erst nach dem 2. Weltkrieg ab Mitte des vorigen Jahrhunderts, und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Und damit kommen wir auch langsam zu den heutigen Flurschäden.

Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ist in der Landwirtschaft geprägt durch eine massive Intensivierung und eine auf größere Betriebe und höhere Produktionsleistungen zielende Agrarpolitik der EWG / EG / EU. Für das Allgäu bedeutete dies, dass die Wiesenwirtschaft nahezu vollständig intensiviert betrieben wurde, also durch den Einsatz von mineralischer Düngung und vor allem Gülle (Stickstoff). Die Grasleistung konnte so erheblich erhöht werden; auch im oberen Allgäu sind heute 4 – 5 Grasschnitte (Heuernten) möglich und üblich. Der zweite wichtige Faktor war die nahezu vollständige Ersetzung des traditionellen Allgäu-Rindes durch die auf Hochleistung in der Milchproduktion getrimmte Zuchtrasse „brown-swiss“. Diese ursprünglich schweizerische, dann in den USA gezüchtete und ab 1960 in Europa eingekreuzte Rinderrasse ist deutlich größer und vor allem sehr viel schwerer als das ursprängliche Allgäurind. Dafür ist seine Milchleistung nahezu verdoppelt: von 6-7000 Liter pro Kuh und Jahr auf heute 12 – 14000 Liter Jahresleistung je Milchkuh „swiss-brown“. Solche Hochleistungkühe kommen mit einfachem Gras und Heu längst nicht mehr aus und müssen mit ergänzendem Kraftfutter versorgt werden. Dies ist teuer – und so sind die Allgäuer Milchbauern natürlich daran interessiert, die Leistungsfähigkeit ihrer Wiesen so hoch wie möglich zu steigern. Der massive Einsatz von Gülle gehört dazu. So konnte bei ungefähr gleichbleibendem Viehbestand die Produktionsleistung verdoppelt werden. Allerdings fressen Hochleistungskühe nicht nur sehr viel mehr bzw. Hochwertiges, sondern produzieren auch entsprechend mehr Mist und Gülle. Und diese landet auf den Allgäuer Wiesen, fast während des ganzen Jahres. Und so stinkt es denn gen Himmel…

Die intensive Nutzung des Graslandes („Grünfutter-Monokultur“) hat nicht nur Hecken und Buschwerk von den Wiesenrändern verbannt, sondern die „fetten“ Wiesen bringen nur noch eine Pflanzenwelt hervor, die solche nährstoffreichen Grundlage verträgt; in der Folge gilt das ebenso für die Tierwelt. Von einer artenreichen, bunten Flora und Fauna kann in der typisch „grünen“ Allgäuer Wiesenlandschaft schon längst nicht mehr die Rede sein. Wer  monotones Grün und Gülle-Luft für „natürlich“ und eben typisch für die Landwirtschaft hält, der kommt hier auf seine Kosten. Natürlich ist das aber keineswegs, sondern Ergebnis einer quasi industriellen Milchwirtschaft; es ist so gewollt. Der Münchener inzwischen emeritierte Biologe Josef H. Reichholf hat in seinen Büchern wiederholt auf diese Zusammenhänge hingewiesen und sie mit Datenmaterial belegt (so z.B. in: Ende der Artenvielfalt? 2008) Die Gärten in den (Groß-) Städten sind heute zum Rückzugsort vieler Arten geworden. Die intensive Landwirtschaft ist im Gegensatz zur offiziellen Propaganda wenig am Erhalt der Artenvielfalt und einer der Allgäuer Landschaft besser entsprechenden Produktionsweise interessiert; sie trägt maßgeblich zum Schwund der Arten und zur Eintönigkeit des „grünen“ Allgäu bei.

Der Landschafts- und vor allem Alpenschutz, den die Milchwirtschaft stets betont, ist auch mit Vorsicht zu genießen. Die größeren und entsprechend schwereren Tiere sind für die Alpwirtschaft keineswegs unproblematisch. Auch die normalerweise auf den Bergweiden während des Sommers gehaltenen Jungtiere sind schon erheblich größer und schwerer als die früheren Allgäu-Rinder – und erst recht als Schafe und Ziegen. Wenn dann, wie heute im Allgäu üblich, die Jungtiere in großen Herden auf wenigen Alpen zusammengefasst werden, so kann man das Ergebnis beim Wandern sehr leicht zu Gesicht bekommen: völlig zertrampelte, aufgerissene und nach Regen verschlammte Bergwiesen dort, wo die großen Herden (200 – 300 Stück Vieh) den Sommer über gehalten werden. Schutz der Berglandschaft sieht anders aus.

Über diese und andere Zusammenhänge und Grundlagen hat Andreas Moser in seiner ausgezeichneten Sendereihe „NetzNatur“ des Schweizer Fernsehens jüngst hingewiesen: „Kuh sein“ (derzeit ist die Sendung noch im Archiv). Gerade der Liebhaber der Allgäuer und überhaupt alpinen Berg- und Wiesenwelt, zu der Kühe seit Jahrhunderten (in Maßen, nicht in Massen!) dazu gehören, erfährt dort viel Wissenswertes über die Probleme und künftigen Möglichkeiten der Milchwirtschaft in den Alpen. Um des Tourismus willen ist man sogar im Allgäu mit seiner starken Milch-Lobby zu Kompromissen bereit. So wird in den Erholungsgebieten des höheren Illertales nur eingeschränkt Gülle ausgebracht, allerdings noch genug, dass die Illerwiesen viel zu fett sind, als dass sie wirklich Blumenvielfalt hervorbringen könnten. Und auch das traditionelle Allgäu-Rind soll wieder eine Chance haben; einige Allgäuer Bauern haben sich der erneuten Züchtung dieser fast völlig verschwundenen Rinderrasse gewidmet. Und sogar gehörntes Milchvieh gibt es noch? wieder? zu sehen!

Welcher Artenreichtum, welche bunte Bergblumenpracht sich auf Talwiesen, die mager belassen werden, entfalten kann, das kann man im benachbarten Tannheimer Tal (Tirol) sehen. Die Wiesen dort bringen im Frühsommer eine unglaubliche Vielfalt an Blumen hervor, dass es eine Freude ist – und dieser Genuss ist zudem (und nur!) ohne die stinkende Gülle zu haben. Es geht also auch anders, wenn man nur will. Es bleibt daher zu hoffen, dass auch im Allgäu mehr und mehr Milchwirte von intensiv auf extensiv umschalten und, wenn sie ihre Produktion als biologisch nachhaltig zertifizieren lassen („Bio-Höfe“), eine sehr viel hochwertigere und wohlschmeckendere Milch plus Milchprodukte auf den Markt bringen können, als es die nur auf Masse angelegte intensive Landwirtschaft ermöglicht. Dann sollte es vielleicht auch wieder möglich sein, auch in einem normalen Lebensmittelgeschäft in Kempten (zum Beispiel) Milch Allgäuer Herkunft kaufen zu können. Es ist ein schlechter Witz, dass die hiesigen Molkereien der früheren Betriebe „Allgäuland“, nun im Besitz des schwedischen Lebensmittelkonzerns ARLA, nur noch Käse produzieren. Das klingt zwar fast wie ein Schildbürgerstreich, ist aber nur das geringste Problem. Es wäre schon viel gewonnen, wenn über das Spannungsverhältnis von intensiver Milchwirtschaft, Artenvielfalt, sanftem Tourismus und Erhaltung der besonderen alpinen Kulturlandschaft wenigstens offen und frei von Lobby-Interessen gesprochen und diskutiert werden könnte. Landwirtschaft, Tourismus und Naturschutz stehen seit langem in einem Widerstreit, der eigentlich nur gemeinsam zu lösen ist. Es geschieht schon vieles, und es ist zu hoffen, dass das Biodiversitäts-Programm des Bayrischen Staatsministeriums für Umwelt wirklich zu messbaren Erfolgen führen wird.

„Flurschaden“ habe ich diesen Artikel überschrieben, aber aus Schaden kann man doch klug werden. Ich hoffe und wünsche es sehr für dies doch eigentlich wunderschöne Allgäu!