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>Fehlstarts

>Das Jahr 2010 beginnt mit einigen Fehlstarts. Dabei denkt man gewiss als erstes an das ermüdende und überflüssige Politiker-Gezänk, das während der nachrichtenarmen Jahreszeit zur Selbstdarstellung der Akteure genutzt wird, und die Medien bedienen sich ihrer gerne, da sie sonst nichts zu berichten haben bis auf „Daisy“ und die Winterpannen. Manch ein Verantwortlicher bei den städtischen Betriebshöfen scheint sich allzu sehr auf die Klimaerwärmung verlassen zu haben, als er die Streusalzmengen im vergangenen Sommer bestellte… eine Fehleinschätzung, wie sich zeigt.

Ein ganz anderer Fehlstart scheint das erste Jahr der Präsidentschaft Barack Obamas zu werden. Der beinahe katastrophale Anschlagsversuch zu Weihnachten entwickelt sich zu einer Art „9/11“ der Präsidentschaft Obamas. Auf einmal ist wieder vom Krieg (war) die Rede, in dem sich das Land Amerika gegen den Terror befinde; das klingt nun schon sehr nach Bushs Rede vom „war on terror“. Die Verzögerungen in der Schließung von Guantanamo machen es möglich und jetzt sehr wahrscheinlich, dass es zu einer Schließung des Lagers nicht mehr kommen wird, seit bekannt ist, dass ehemalige Häftlinge aus Guantanamo über den Umweg Saudi-Arabien flugs wieder zu Al-Qaida-Kämpfern wurden mit Sützpunkten und Ausbildungscamps im Jemen. Wer bitteschön kann es jetzt noch verantworten (und innenpolitisch überleben), Guantanamo zu schließen und möglichst viele der restlichen Häftling freizulassen bzw. in ihre Heimatländer oder befreundete Staaten zu „überstellen“? An der brutalen Realität des Terrorismus, der sich Anfang 2010 so aktiv und gefährlich zeigt wie schon viel Monate nicht mehr, kommt auch jede noch so gut und ernst gemeinte Menschenrechtsdiskussion nicht mehr vorbei. Der Mensch, zumal der fanatische Al-Qaida-Kämpfer, entspricht nun einmal nicht den Kategorien der Strafprozessordnung und den Mustern herkömmlicher Kriminalität. Hier einen Weg des Schutzes und der vorbeugenden Maßnahmen gegen Selbstmordattentäter von Al-Qaida zu finden, der effektiv, verantwortungsvoll und zugleich in unserem bisherigen Wertesystem akzeptabel erscheint, ist die eigentliche ethisch-politische Herausforderung des weltweit agierenden Terrorismus. Dass sich dabei auch unsere Wertvorstellungen hinsichtlich ihres Realitätsbezuges ändern müssen, scheint auch klar zu sein. Dies fällt schwer, scheint aber der einzig mögliche Weg zu sein. Dazu gehört, dass über diese Fragen des Einsatzes und der Methoden gegen Terroristen grundsätzlich und offen diskutiert wird. Hier ist ein völlig neuer gesellschaftlicher Diskurs gefragt.

Der scheint sich anzudeuten in einem weitern, dem vorigen benachbarten Gebiet: dem Krieg in Afghanistan und dem Sinn und der Bedeutung des deutschen Militäreinsatzes dort. Hier liegt der Fehlstart schon am Ende des Jahres 2009 mit dem Angriff auf die Tanklaster bei Kundus und dem öffentlichen Umgang mit diesem Ereignis. Bei den politischen Äußerungen schien es weit mehr um Parteipolitik, Informationspolitik und um die Rolle eines Ministers zu gehen als um die dadurch neu aufgeworfene Sachfrage: Wozu ist deutsches Militär in Kundus? Welche Methoden und Einsätze sind erlaubt und nötig? Welche Strategie sollte künftig eingeschlagen werden? Was ist uns dieser Einsatz wert? Wenn auch darüber endlich offen und ehrlich gesprochen und diskutiert würde, dann wäre es kein Fehlstart gewesen, sondern eher ein heilsamer Schock. So einfach wie die EKD-Präsidentin wird man es sich allerdings dabei nicht machen können, allerdings ist sie auch nicht dazu berufen, eine erfolgversprechende militärische und politische Strategie zu finden, das sollte die Politik nun wirklich tun. Es ist zu hoffen, dass auf der Afghanistan-Konferenz in London die Dinge offen beim Namen genannt werden und eine klare, wenn auch schmerzhafte Strategie beschlossen wird. Diese sollten die Regierungsvertreter dann auch offen und unzweideutig zu vertreten den Mut haben, damit hier ein weiterer viel teurerer Fehlstart, sprich ein Desaster, vermieden wird.

Nicht nur für Obama entwickelt sich die Weltlage keineswegs erfreulich. Kopenhagen war ein weiterer Fehlstart, dessen Auswirkungen noch weit ins Jahr 2010 hinein reichen. Vielleicht war es aber auch gar kein Fehlstart, sondern nur ein allfälliges Platzen von Illusionen, zum Beispiel über die in Europa (Frankreich!) gerne und viel beschworene „Multipolarität“. Davon war in Kopenhagen nämlich nichts mehr zu spüren. Letztlich verhandelten die USA und China im Beisein von Brasilien und Indien hinter verschlossenen Türen und einigten sich auf einen Minimalkonsens, der dann gar keiner war, zumindest kein offizieller. War das ein Vorgeschmack auf die neue Weltordnung der neuen Mächte? Obama sah dort wie schon bei seinem letztjährigen Besuch in Peking gar nicht besonders gut aus. China jedenfalls macht bei der Verfolgung seiner Interessen keine Kompromisse nur dem Westen oder einem netten Präsidenten zuliebe. Wenn die Präsidentschaft Obamas nicht im Fehlstart versacken soll, wird auch dieser Präsident die ausgetreckte Hand mehr und öfter zur Faust ballen müssen. Die Welt ist nicht so, wie wir sie gerne hätten.

Das betrifft auch den Blick auf all die Länder und Regionen (von Staaten in herkömmlichen Sinne kann man da manchmal gar nicht mehr sprechen), die uns heute und morgen und voraussichtlich auch weiterhin viel Kummer und Kosten machen werden: die sog. failed states, die so offen zu nennen man tunlichst vermeidet, die aber doch ganz klar aufzulisten sind: Afghanistan, Pakistan, Jemen, Somalia, Äthiopien, eine Reihe weiterer westafrikanischer Staaten, eine Reihe von Kaukasusländern, unter welcher Oberhoheit auch immer. Solche failed states, also Länder und Gebilde, die keine herkömmliche Regierungsgewalt mehr haben, sind zum Spielball von internationaler organisierter Kriminalität („Mafia“) und des Terrorismus, meist auf dem Hintergrund eines fundamentalistischen Islam, geworden. Terrorismus und Mafia scheint übrigens zunehmend Hand in Hand zu gehen. Manche vermuten zu Recht, dass eine Bekämpfung des internationalen Terrorismus viel mehr an dessen Geldströmen ansetzen sollte. Nur – dies effektiv anzupacken scheint fast noch aussichtsloser zu sein als der militärische Einsatz. Die mafiösen Strukturen breiten sich ja auch mitten in unserer „zivilisierten“ Welt und Gesellschaft Europas und Amerikas aus, von Asien ganz zu schweigen. Ein Großteil des Schwarzgeldes, dessen Menge die Größenordnung des Bruttosozialproduktes eines mittleren europäischen Landes erreicht, ist wohl eindeutig der OK, der organisierten Kriminalität, zuzurechen. Das Bundesfinanzministerium schätzt recht konservativ diese Summe auf 3 – 5 % des Welt-Bruttosozialproduktes.

Trübe Aussichten? Jedenfalls ist die Welt des Jahres 2010 nicht einfacher geworden, und auch die Finanzkrise ist ja noch keineswegs ausgestanden. Man sollte als Konsequenz dieser Betrachtungen nicht pessimistisch werden, sondern realistisch bleiben. Das Jahrhundertereignis der ersten schwarzen US-Präsidentschaft ist auf dem Teppich gelandet, und das ist ja auch irgendwo gut so. Vermeintliche Heilsbringer helfen nicht, sondern nur beharrliches, möglichst realistisches und damit verantwortliches Handeln aller Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft; einfache Rezepte und Lösungen sind keine. Zeit und Anlass zum Träumen besteht allerdings auch nicht mehr.