>Ja, das gibt es bei uns, eine „vorsintflutliche Religion“; eine Religion und ihre Organisation, die sich weitestgehend gegenüber neuzeitlichem Denken immunisiert, archaische Riten pflegt, nach wie vor eine moralische und theologische Exklusivität verficht und den Zeiten hinterher trauert, als sie noch viel mächtiger war. Ich schreibe nicht vom Islam – ich denke an die römisch-katholische Kirche. In gewisser Weise gilt das allerdings auch für einen konservativ-kämpferischen oder süßlich-introvertierten Protestantismus. Im Katholizismus kommt insbesondere die mittelalterliche Hierarchie dazu, die dem System Stabilität und der Archaik und Rückwärtsgewandheit Methode verleiht. Auch die derzeit die Öffentlichkeit bewegenden Missbrauchsfälle in katholischen „pädagogischen“ Einrichtungen, seien es Kindergärten oder seien es Jesuiten-Schulen wie das Canisius-Internat in Berlin, haben durchaus System. Sogar der Leiter des Canisius-Gymnasiums und Jesuitenpater kann nicht mehr umhin, öffentlich von einem „vertuschenden System“ und „Strukturen“ der Angst zu sprechen. Dabei handelt es sich nun aber nicht um den Zölibat oder das elitäre System der Jesuiten-Bruderschaft, woran da vorschnell erinnert wird. Das sind nur einige vordergründige Phänomene. Der Sprecher des Arbeitskreises Engagierter Katholiken (AEK) in der CDU, Martin Lohmann, ahnt wohl genauer, was auf dem Spiel stehen könnte, wenn er in einem Beitrag für die FAZ jedes Systemversagen kategorisch ausschließt, auf die alleinige Verantwortung der einzelnen verirrten Schäfchen verweist und im Übrigen die besondere „Kostbarkeit“ der Sexualmoral der katholischen Kirche preist, die ein Bollwerk gegen „Verirrungen im Namen angeblicher Freiheit … in einer herrschenden durchsexualisierten Diktatur des Relativismus“ (sic!) sei (FAZ vom 06.02.2010 S. 10). Ja, wie gut dass es die katholische Kirche gibt in dem Sodom und Gomorrha der modernen Welt – dabei fällt unter den Tisch, dass es gerade die katholische Kirche selber ist, die sich in ihrem eigenen „Sodom und Gomorrha“ zufrieden eingerichtet hat. Erst Jahrzehnte später kommt dies Unwesen an den Tag, nicht aus eigener Schuldeinsicht, sondern weil die Opfer nicht mehr schweigen konnten.
Es ist dies nur die Spitze des Eisberges einer prinzipiell rückwärtsgewandten, anachronistischen Form der christlichen Religion, wie sie die römisch-katholische Kirche darstellt. Wenn ihr Papst, ein angeblich doch hochgebildeter Theologe, jüngst ein Buch über Jesus veröffentlicht, das die Ergebnisse der literarischen und historischen Erforschung der Bibel in den letzten 200 Jahren schlicht ignoriert und gar nicht erst zur Kenntnis nimmt, um den Gläubigen im Namen der allzeit gültigen katholischen Lehre ein völlig voraufklärerisches, mythisches Jesusbild zur Erbauung der Seelen zu skizzieren, dann spricht das für sich. Es nimmt Wunder, dass die Öffentlichkeit dieses Jesusbuch von Josef Ratzinger so wenig kritisch aufgegriffen, eher peinlich berührt beiseite gelegt hat. Von katholischen Theologen ist heute zwar wieder viel vom allumfassenden katholischen Glauben, der einen wahren Kirche und des beständig bleibenden Vorrechts der Verwaltung der Mysterien in einer gottgegebenen Hierarchie zu hören und zu lesen, außerdem von einem Alleinvertretungsanspruch des Christlichen und seiner allein wahren und selig machenden Kirche, wie man es nur im hohen Mittelalter und in den der Reformationszeit folgenden Auseinandersetzungen zu hören bekam. Kein Wunder auch, dass sich der römische Katholizismus auf einmal so gut versteht mit der reaktionärsten Form des Christentums überhaupt, mit der zur reinen staatstragenden Mysterienreligion mutierten russischen Orthodoxie. Kein Wunder auch, dass sich Rom gemeinsam mit Sprechern des Islam regelmäßig gegen eine säkulare Öffentlichkeit wendet, wo Burka, Kutte und Kruzifix dann zu gleichwertigen religiösen Symbolen werden, die durch die Verfassung geschützt seien. Auch von der katholischen Universitätstheologie, die doch staatlich finanziert ist wie die die protestantische auch, ist nun seit vielen Jahren gar nichts mehr zu hören und zu lesen, was an einen Diskurs mit den Themen der heutigen Welt erinnern könnte, außer den apologetischen Verteidigungsreden, dass die katholische Moraltheologie und Soziallehre „es“ schon immer gewusst und gesagt habe. Fundamentalistischer Islam und ultrakonservativer Katholizismus treffen sich auf einmal in einer unheiligen Allianz: der Pius-Bruder Bischof Williamson befindet sich in der Leugnung des Holocaust mit dem iranischen Hardliner Ahmadinedschad auf gleicher Wellenlänge. Dies eben sind keine Zufälle, dies ist begründet in einem strukturgleichen System: les extrêmes se touchent.
Wo der Geist der Aufklärung und die Methode kritischer Wissenschaft, anders gesagt wo der Freiraum der kritischen Rationalität unterdrückt und ausgeschlossen wird, da treten sogleich Dogmatismus und Fundamentalismus auf den Plan. Die christliche Religion hat einmal, vor fast 500 Jahren, den Versuch unternommen, ihr dogmatisches Erbe zu entrümpeln und sich daraufhin mit den Erkenntnissen kritischen Denkens zu messen. Es ist ihr in erstaunlicher Weise geglückt, auch wenn es mehr als einen Versuch auch auf protestantischer Seite gegeben und weithin gibt, das Rad zurück zu drehen und seinerseits nun auch wieder dogmatisch und borniert individualistisch-innerlich zu werden. Immerhin war die Reformation der geschichtlich einzigartige Versuch, die Traditionen der eigenen Religion und Kirche zum Gegenstand der ihrer selbst bewusst gewordenen neuzeitlich Subjektivität zu machen. Die Aufklärung zog daraus nur die Konsequenzen. Religion wurde dadurch mitnichten zerstört, sondern ihres dogmatisch-autoritären Mantels entkleidet. Einige „Kerne“ erwiesen sich dabei allerdings auch als zweifelhaft und doktrinär. Dogmatisches Denken ist und bleibt das einfachere Angebot, weil es da in der Regel nur um Schwarz oder Weiß geht; das kennen auch die Evangelischen; sie sind vor Dünkel also nicht gefeit, siehe den konservativ bis reaktionär-evangelikalen Protestantismus us-amerikanischer Prägung, den es auch hierzulande gibt.
Dogmatisches Denken und eine selbstimmunisierende, mythologisierende Praxis bleiben eine ewige Versuchung der Religionen. Solche Religionssysteme machen per definitionem keine „Fehler“, nur der einzelne kann fehlen wie die Jesuitenbrüder am Canisius-Kolleg oder ihre Kumpel an irischen Kirchenschulen. Um ihrer selbst willen sollten insbesondere die abendländischen Religionen nach „Aufklärung“ streben, nicht nur ihrer Untaten und religiösen Gewaltexzesse, sondern zu aller erst ihres Denkens und Glaubens. Sie sind es uns heute, im 21. Jahrhundert, schuldig.