Das Internet macht mehr Partizipation, Transparenz, direkte Demokratie möglich. Das jedenfalls ist die Hoffnung vieler Netz-Aktiven. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus: Die „Netzgemeinde“ bei uns stellt sich derzeit doch eher als eine länderspezifische „Subkultur“ dar. Da ist weiterer Diskussionsbedarf vorhanden.
Anfang dieser Woche tagte die Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ des Deutschen Bundestages, siehe den offiziellen Bericht davon (inkl. dreistündiger Mitschnitt!). Die im Online-Text kurz angerissenen Beiträge der Sachverständigen zeichneten ein recht diffuses Bild, das thematisch vom Beklagen der „Gefahr der digitalen Spaltung“ über die festgestellte bildungsmäßige Disparität bis zum Spannungsverhältnis von Transparenz und Vertrauen / Vertraulichkeit reichte. Am weitesten ging vielleicht der Beitrag von Christoph Kappes, der zwar eine Fülle von Innovationen durch den „social layer“ des Webs und neue „Regel-Sets“ der Gesellschaft anpries, dabei aber nicht immer klar und verständlich blieb. Insgesamt fand er die Diskussion „enttäuschend“, da er sein Anliegen nicht richtig rüber bringen konnte.
Dies geht möglicherweise vielen so, und nicht nur bei den Beiträgen und Diskussionen der Enquete-Kommission. Kappes weist zu Recht darauf hin, dass wir die Entwicklungen im Internet derzeit „im Embryonenzustand“ beobachten und Schlussfolgerungen daraus naturgemäß schwierig sind. Die lange Liste der künftigen Möglichkeiten der Kommunikation im Internet fasst er mit positiver Perspektive so zusammen:
Trotzdem muss ich Erwartungen an die deliberative Kraft des Internets eher dämpfen. Die heutige „Netzgemeinde“ wird vor allem beeinflusst von einer überschaubaren Gruppe gebildeter und diskursfähiger Berufskommunikatoren. Eine Verallgemeinerung ist nicht möglich. Youtube-Blogger und Facebook-Aktivisten sind eher die Vorboten davon, dass sich sehr unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen des Internets bedienen. Wie aufgeklärt der Aktivismus aus dem Netz sein wird, ist heute ungeklärt. Es spricht vieles dafür, dass sich im Internet mehr und mehr alle gesellschaftlichen Gruppen wiederfinden und diese es für ihre politische Tätigkeit nutzen.
Torsten Kleinz berichtet in ZDF-Blog Hyperland über die Jahrestagung der „Deutschen Gesellschaft für Informationswissenschaft und Informationspraxis“, die derzeit unter der Überschrift “Social Media und Web Science – Das Web als Lebensraum” in Düsseldorf stattfindet. Fazit: Das Internet hat die Lebengrundlage aller Informationsarbeiter grundlegend verändert. Nach dem ersten Tag herrschte aber offenbar mehr Ratlosigkeit als echter Erkenntnisfortschritt darüber, was nun die soziale Dimension des Internets an Neuem bringt und wie sie wirkt:
Doch wie die Dynamik im Internet überhaupt funktioniert, ist den Wissenschaftlern nicht ganz klar. Eins ist jedoch steht außer Frage: Alleine durch Informatik und Informationstheorie kommt man dem Rätsel nicht näher. … Das Web ist eine soziale Maschine: Die technischen Grundlagen sind relativ simpel, wie sie jedoch die Realität formen und gestalten entscheidet jedoch der Mensch. … Die ersten Experimente bringen nur sehr, sehr begrenzte Erkenntnisse über die Funktionsweise des Netzes und dem Verhalten der Menschen darin.
Aufschlussreich ist immerhin die Kampagne um den Kriegsverbrecher Kony. Warum sie so erfolgreich war, zeigen erste Analysen, gerade auch, inwiefern sich diese Aktion als eine gezielte Kampagne dechiffrieren lässt, gesteuert aus einem speziellen US-amerikanischen politisch-religiösen Milieu („Invisible Children“). Diese Analyse lässt daran zweifeln, dass Interaktion in den sozialen Medien stets spontan und „chaotisch“ verläuft. Hinter dem scheinbaren Chaos der Klick-Raten, Likes und Retweets können ebenso gut Akteure stehen, die die Funktionsweise der Internet-Kommunikation genau einzusetzen und zu steuern wissen. Und genau dies bringt mich zum Nachdenken und Nachfragen, die ich in die Form einiger Thesen fasse.
1. Zweifellos ist das Internet die größte technische Revolution unserer Zeit. Inwiefern es sich zu einer sozialen und politischen „Revolution“ entwicklen wird, ist noch offen.
2. Der Kommunikation und Interaktion über lokale und temporale Grenzen hinweg bietet ungeheure Möglichkeit der Partizipation (Teilnahme und Teilhabe). Inwieweit dies zu mehr Nähe und Verstehen, Kritik und Dialog, Engagement und Mitwirkung führen wird, und / oder auch zu mehr Kontrolle, Mainstreaming und Hypes bei gleichzeitig desinteressierter Konsumhaltung, ist noch offen.
3. Viele neue Möglichkeiten bedeutet immer auch: viele mögliche Nebeneffekte („usus“ und „abusus“). So ist zum Beispiel mehr Transparenz möglich und oft wünschenswert, muss aber, wenn es nicht zum institutionalisierten „stalking“ werden soll, sozial und individual begrenzt bleiben und mit Vertrauensschutz einher gehen.
4. Der schon oft zitierte und beklagte „digitale Graben“ muss ernst genommen werden, und zwar nicht nur als ein zu beseitigender Fehler bzw. Missstand, sondern als de-facto-Verhalten und insofern auch Meinungsäußerung eines erheblichen Teiles der Bevölkerung. Es scheint mir zu kurz geschlossen, Internet-Abstinenz nur als ein Generationenproblem abzutun.
5. Die Diskussion über die Chancen und Wirkungen des Internet als „social medium“ nur national zu führen, ist widersinnig. Noch sind auch im Internet die sprachlichen Grenzen zugleich Grenzen des Diskussionraums. Natürlich gibt es deutsche Beiträge in Englisch, es ginge aber um eine selbstverständliche Beteiligung deutscher Internet-User an z. B. englischen, skandinavischen, spanischen oder französischen Diskursen und umgekehrt.
6. Ein besonderes Phänomen sind die Aktivitäten politischer Blogger aus Konfliktländern und -zonen (siehe derzeit Syrien) und internationale Kampagnen wie bei den Occupy-Aktionen. Scheinbar grenzenlose Mobilisierung kocht in kürzester Zeit hoch, um nach wenigen Wochen wieder in sich zusammen zu fallen. Da entpuppt sich die Wirkung des neuen Mediums als klassisches Strohfeuer.
7. Die Haltung zum Internet stellt sich in verschiedenen europäischen Ländern politisch und gesellschaftlich offenbar sehr unterschiedlich dar. Hier müsste es überhaupt erst einmal zu einer inter-europäischen Diskussion, ja Wahrnehmung der jeweiligen Internetgruppen und -interessen kommen.
So ist in Frankreich trotz intensiver Internet-Nutzung eine breitere Internet-affine Gruppierung kaum vorhanden: „Die Mehrheit der Franzosen nimmt dies [Sarkozys restriktive Netzpolitik] offenbar mit einem gewissen Gleichmut hin. Trotz der europäischen Spitzenreiterposition in verbrauchter Bandbreite und täglicher Internetnutzung spielt Netzpolitik in den politischen und gesellschaftlichen Mainstream-Debatten kaum eine Rolle.“ (Joh. Kuhn in der SZ gestern).
8. Auch hierzulande schwankt die Thematik „Internet“ sehr stark im öffentlichen (= veröffentlichten) Interesse. Der „Bundestrojaner“ und die ACTA-Diskussionen haben für etwas mehr Aufmerksamkeit gesorgt, aber insgesamt bleibt die deutsche Öffentlichkeit (Zeitungen, TV, Radio) von den Bewegungen in den „Netzwelten“ recht unberührt. Dass z. B. Radiosender Facebook-Seiten aktiv nutzen und in Sendungen integrieren, ist zunächst nur ein weiteres zielgruppenbestimmtes „cooles“ Mittel des Mediums Radio. Thomas Gottschalks Versuch, statt Live-Publikum Twitter und Facebook zur Interaktion zu nutzen, hat sich als Fehlschlag erwiesen.
9. Internet-Aktivisten neigen dazu, den eigenen Standpunkt und das eigene Interesse gesellschaftlich zu überschätzen, weil sie ihre neue Weltsicht, die „digitale“ nämlich, vorschnell als allgemeingültig setzen und eine rein technische Möglichkeit sozial verabsolutieren. So hat auch das Interesse an den „Piraten“ erheblich nachgelassen (vgl. Umfragewerte), weil sie wenig zu nicht-netzspezifischen Themen wahrgenommen werden. Und aktive Twitterer gibt es von Kappes geschätzt weniger als 2 % …
10. Trotz allen Enthusiasmus‘ und weit ausgreifender Thesen und Perspektiven zur Zukunft des Internets stellt sich die „Netzgemeinde“ bei uns derzeit doch eher als eine länderspezifische „Subkultur“ dar. Dabei ist „sub-“ nicht abwertend gemeint, sondern bezeichnet eine Teilmenge; man könnte auch Nebenkultur sagen. Sie ist durch die eigene Netz-Affinität, durch eigene Netzaktivitäten (teilweise auch beruflich) und Social-Media-Sozialisation geprägt. Der Begriff „Netzgemeinde“ wurde zwar jüngst als quasi-religiös kritisiert (siehe Thomas Knüwer, Indiskretion Ehrensache), trifft aber den derzeitigen Stand aus meiner Sicht am besten.
11. Diskussionen um die Bedeutung und Auswirkungen der „digitalen Revolution“ sind gut, sinnvoll und erforderlich; auch Enthusiasmus und das Aufzeigen von Chancen helfen weiter (= über den Tellerrand hinaussehen). Die „Internet-Gemeinde“ entwickelt sich doch gerade erst auf einen öffentlichen Diskurs hin. Darum ist auch dieser Beitrag in einem Blog natürlich ein Beitrag an die – „Netzgemeinde“ !