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Brave New World 2.0

Die kulturelle Revolution ausgelöst durch das Internet ist Fakt. Die Chancen und Folgen für Teilhabe und Transparenz sind immens.  Negative Aspekte wie Nationalisierung und Fragmentierung des Netzes und der Gesellschaft kommen dabei oft zu kurz. Wer definiert, was das Web 2.0 sein soll?

Das „Web 2.0“, d.h. die Kommunikations- und Interaktionsmöglichkeiten des digitalen Zeitalters stellen eine kulturelle Revolution dar. Es wird zu Recht unermüdlich (bisweilen mit fast missionarischem Eifer) in den Kreisen der Netzdiskussion auf die enormen Chancen und Veränderungen hin gewiesen, die mittels der Techniken das Internets eingeleitet sind. Dass es nicht nur um den Gebrauch einer „neuen Technik“ geht, man auch nicht mehr „ins Netz“ geht, so wie man einst telefonierte, (Th. Knüwer), sondern dass es sich um ein vernetztes soziales Verhalten handelt; dass es nicht nur um „facebook for fun“ geht, sondern um die Nutzung einer neuartigen „Plattform“ der Teilhabe (Stichwort „Plattformneutralität, wie M. Seemann nicht müde wird zu betonen); dass auf dem Hintergrund der digitalen „Medien“ (besser: Beiträge eines jeden Wort- und Bild- und Ton-Produzenten) um ein völliges Neudenken des „Verwertens“ und des sog. Copyrights geht (Stichwort: Urheberrecht, siehe z.B. M. Beckedahl); dass es – mit einem treffenden Wort der Piraten, schlicht um ein neues „Betriebssystem“ unserer Gesellschaft geht (M. Weisband) mit den Werten der gleichberechtigte Teilhabe, Netzneutralität, umfassenden Bildung, Transparenz und (basis)demokratischer Willensbildung und Beteiligung; dass es mithin um einen Schub an Demokratisierung in unserer Gesellschaft mit dem Aufbrechen überkommener Machtverkrustungen geht, gar um das Entlarven der „Nachhaltigkeitslüge“ (S. Nerz), um mehr Beteiligung, Mitbestimmung, Offenheit, Authentizität im Miteinander, dass also das Web 2.0 dazu beitragen kann, es gar bewirken kann, dass die negativen Folgen der industriellen Moderne durch einen Schwung positiver Möglichkeiten der netzaffinen Postmoderne überwunden werden können – all dies ist gut und richtig und aller Mühe wert, weiter durchdacht, gemacht, ausprobiert zu werden. Diese positive Sicht des Web 2.0 hat zu einer ungeahnten Aufbruchsstimmung geführt, siehe die „Piraten“.

Was das „Internet“ für die politischen Institutionen bedeuten kann oder muss, das wird in der Enquetekommission des Deutschen Bundestages „Internet und digitale Gesellschaft“ verhandelt und ist in einer öffentliche Anhörung zum „Strukturwandel der politischen Kommunikation und Partizipation“ am 19. März thematisiert worden. Der ausführliche Beitrag von Christoph Kappes zum Thema dieser Anhörung gehört zum Besten, was derzeit dazu zu lesen ist. So weit, so gut. Ich selber teile weithin den Enthusiasmus über all das, was derzeit im Netz und durch das Netz geschieht; es sind wirklich spannende Zeiten!

Ja, nun kommt das Aber. Denn mir kommen in dieser Diskussion gerade von seiten der „Netzgemeinde“ (bei aller Problematik, dieser Begriff ist als Kürzel einfach brauchbar…) einige Aspekte zu kurz. Es ist vielleicht die Begeisterung über die Chancen des Neuen, dass da weniger auf das Negative geschaut wird. Aber es gibt nichts von Menschen Gemachtes, das nicht stets zwei Seiten hätte. Das Augenmerk auf beide Seiten zu legen, trägt zur Nüchternheit und zum Realismus bei.

Erhellend ist für mich die jüngste Sinus-Studie zum Thema „Vertrauen im Internet im Internet“ im Auftrag der DIVSI. „Rund 27 Millionen Menschen in Deutschland leben komplett oder nahezu komplett ohne Internet. Damit sind hierzulande fast doppelt so viele Personen offline wie bislang angenommen.“ Es ist die Gruppe der sog. Digital Outsiders: „Die Digital Outsiders sind entweder offline oder stark verunsichert im Umgang mit dem Internet. Das Internet stellt für sie eine digitale Barriere vor einer Welt dar, von der sie sich ausgeschlossen fühlen und zu der sie keinen Zugang finden.“ Dazu werden mehr als ein Drittel der Bevölkerung gerechnet. Dass weitere 40% als digital affin („natives“) und aktiv („immigrants“) verortet werden, mag trösten. Dennoch besteht ein gewaltiger „digitaler Graben“ in unserer Gesellschaft, der nur zum Teil auf fehlender Bildung und Unvermögen beruht; zum geringeren Teil ist es auch eine Haltung bewusster kritischer Abstinenz. Dies gilt es recht zu bedenken und ernst zu nehmen.

Diese Kritik in Sachen ‚Internet und Web 2.0‘ könnte sich an folgenden Punkten fest machen. Ich zähle stichwortartig einige negative Aspekte auf, die mir in der engagierten Netzdiskussion oft zu kurz kommen:

1. Kontrollierung des Netzes und seiner Standards durch dominante Internet- u. Medienkonzerne (Google, Facebook, Fox-TV u.a., sämtlich in USA)
2. Fragmentierung des Web: WWW ist faktisch US-W oder WW = westliches Web. Staaten wie China, Iran und andere islam. Staaten haben sich ausgeklinkt.
3. Nationalisierung des Netzes durch einzelstaatliche Reglementierung und “Zensur” (-> Frankreich; Australien)
4. Algorithmen gesteuerte Überwachung des Einzelnen (z.B durch DHS in den USA); präemtives Profiling
5. Apple-Effekt: Torwächter-Monopole; was das iPad nicht darstellt, ist im Web “nicht vorhanden”.
6. Es gibt kaum einen länderübergreifenden Diskurs; “Netzgemeinde” = nationale Blase?
7.  Bereitschaft zum politischen Diskurs, zu aktiver Beteiligung bleibt gering (siehe Jugend-Studie); Netz-„Konsumenten“ dominieren über „Netz-Gestaltern“.
8. Die Tendenzen zur Kontrolle des Netzes nehmen eher zu als ab. Sicherheit vor „Kontrollverlust“. Industrie dominiert; Macht vor Recht?
9. Die Verletzbarkeit und Störanfälligkeit des Netzes nimmt durch monopolartige Zugangs-Strukturen und durch Instabilität der ‚Energieversorung und -netze zu.
10. Wie schafft man den Spagat zwischen Transparenz und Vertrauen, zwischen Offenheit und Persönlichkeitsschutz, zwischen technisch Machbaren und human Wünschbaren?

Mit den Fragestellungen des letzten Punktes wird der Bereich geöffnet zu dem weiten Feld an Problematiken, die sich aus den vielfältigen technischen und industriellen Möglichkeiten der „Postmoderne“ ergeben. Ulrich Beck hat vorausschauend darauf hin gewiesen, was es bedeutet, in der „Weltrisikogesellschaft“ zu leben, auch wenn er in dem gleichnamigen Buch (2008) noch kaum auf die digitale Herausforderung Bezug nimmt. Seine kritischen Analysen können auch die Diskussion um „das Netz“ hilfreich aufklären. „Definitionsverhältnisse sind Machtverhältnisse.“ Einer seiner Kernsätze. Wer also definiert, was das Web 2.0 ist, sein wird, was es kann und soll?

UPDATE:

Ich finde eben den Beitrag von Constanze Kurz (CCC) im FAZ-Blog über das ungelöste Problem der Wahl-Computer, die dennoch nach und nach die großen Demokratien erobern und Wahlen der manipulativen Undurchschaubarkeit ausliefern – ein weiterer kritischer Aspekt.