>Beim Stichwort „Systemkrise“ denken wir vielleicht zuerst an die Wirtschafts- und Finanzwelt. Dass die Finanzakrobaten (und alle Privatanleger und Politiker, die da eifrig mit gemacht und mit spekuliert haben) das Wirtschaftssystem in eine Krise gestürzt haben, ist unstrittig. Wir haben uns an den Begriff „systemischer Auswirkungen“ bei der Schieflage einzelner Bankinstitute gewöhnen müssen. Wie entschlossen und tiefgreifend die aus dieser Krise zu ziehenden oder bereits gezogenen Konsequenzen ausfallen – oder ob wirkliche Konsequenzen schlicht ‚ausfallen‘, sei einmal dahin gestellt. Recht einig ist man sich allenfalls darin, dass es sich um eine schwere Krise des Finanzsystems gehandelt habe.
Bei dem, was wir derzeit im Raum der Kirchen erleben, wird das erstaunlicherweise strikt geleugnet. Im Vordergrund der öffentlichen Wahrnehmung steht die katholische Kirche, die schwersten sexuellen Missbrauch an ihr anvertrauten Kindern und Jugendlichen jahrzehntelang und landesweit in kaum glaublichem Umfang geduldet, verharmlost und vertuscht hat – bis hinauf zu den höchsten Repräsentanten des deutschen Katholizismus, siehe Zollitsch. Dennoch weigert sich die katholische Kirche beharrlich, auch nur ansatzweise von einer „Systemkrise“ zu sprechen. Der jüngste Hirtenbrief des Papstes an die irischen Bischöfe räumt zwar Schuld ein, verweist aber auch die Verfehlungen einzelner und beklagt die erschreckenden Tendenzen der „Verweltlichung“, die unsere modernen Gesellschaften prägten und die für sexuelle Exzesse mitverantwortlich seien. Überhaupt scheint dem Papst mehr am Imageschaden der katholischen Kirche als an den Opfern und dem Aufarbeiten des offenkundigen Unrechts zu liegen. Dies würde zu allererst den Zusammenhang von vormoderner Sexualmoral, zölibatärem Selbstbetrug und scheinheiligem Machtanspruch gegenüber einzelnen Menschen (Ohrenbeichte) und Gesellschaften (Konkordate) aufdecken müssen. Es geht gerade um das System „katholische Kirche“, das hier auf den kritischen Prüfstand gehört. Dies System entstammt vordemokratischen und vormodernen Zeiten und hat eine „Reformation“ und „Aufklärung“ immer noch vor sich. Die Bewegung „Wir sind Kirche“ fordert zu Recht die Klärung dieses „globalen Strukturproblems“ in der katholischen Kirche. Vormodernen Fundamentalismus gibt es eben keineswegs nur im Islam, sondern – wir können es nur erschrocken registrieren – mitten in der christlichen Religion, besonders ätzend und für die Opfer entwürdigend in der katholischen Kirche als ganzer, eben als System. Der Papst und die Bischöfe scheuen diese offene Auseinandersetzung mit den kritischen Systemfragen wie der Teufel das Weihwasser. Soeben höre ich im Radio (BR), der Regensburger Bischof Müller habe die „Angriffe“ und „Medienkampagne“ gegen die katholische Kirche mit den Anfeindungen und Hetzkampagnen im Nationalsozialismus verglichen. Das ist schon starker Tobak! Das Kartell des Vertuschens und Verschweigens, die ‚organisierte Kriminalität‘ katholischer Sexualmoral und -praxis innerhalb der eigenen Mauern führt sehr schnell zur eigentlichen Machtfrage, das scheint der Regensburger Bischof gemerkt zu haben. Können wir uns in unseren modernen, offenen Gesellschaften tatsächlich noch ein solch archaisches, zudem privilegiertes „System Kirche“ leisten? Muss hier nicht mit denselben Maßstäben gerechnet und gerechtet werden wie bei allen anderen gesellschaftliche Gruppen und Vereinen? – Es wird Zeit, dass die katholische Kirche als Bollwerk antidemokratischer Vormoderne vom Sockel ihrer selbstgefälligen Scheinheiligkeit herunter geholt wird.
Übrigens haben in dieser Frage des sexuellen Missbrauchs und vormoderner Glaubenswelten auch die evangelischen Kirchen ihr Päckchen zu tragen; es ist reine Glücksache, dass sie derzeit nicht im Fokus des öffentlichen Interesses stehen wie seinerzeit im Fall Käßmann. Missbrauchsfälle gibt es auch hier zuhauf, sowohl was die Vergangenheit in Heimen und Pflegeeinrichtungen der kirchlichen Diakonie betrifft (siehe das Schuldeingeständnis der Hannoverschen Landeskirche von 2008) als auch was kirchliche Internate und Schulen in der Gegenwart angeht (siehe die erschreckenden Meldungen über eine Sonderschule der evangelischen Diakonie). Der frühere Schulleiter des Internats „Odenwaldschule“ Gerold Becker war evangelischer Religionslehrer. Trotz der Erfahrungen und Lehren der Reformation und der Zeit der Aufklärung hat auch der Protestantismus das alte Kleid der selbstgerechten Engstirnigkeit und der naiv-doktrinären Glaubensenge keineswegs abgestreift. Es geht auch hier ums System, um das System christlicher Religion und Kirchlichkeit in der Neuzeit, in der heutigen Zeit der offenen Gesellschaften und ihrer modernen Lebenswerte. Auch hier gilt: Fundamentalismus, Gewaltbereitschaft, sexuelle Ausbeutung und Misshandlung finden mitten im Raum der christlichen Kirchen statt. Kirchenkritik reicht da nicht aus, Religionskritik ist dringend nötig. Wer vom Islam die Bereitschaft zur Veränderung, zu einer „Aufklärung“ und Anerkennung westlicher Freiheitswerte fordert, der sollte erst einmal bei sich selber beginnen. Auch die christlichen Kirchen haben da noch einen langen Weg vor sich. Religion in der Neuzeit ist eine Religion im Umbruch – oder im Verfall. Den Verfall der kirchlichen Sitten erleben wir inzwischen täglich.