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Die Kunst der Ambiguität

Die Kultur der Ambiguität neu zu entdecken schlägt ein Buch von Thomas Bauer über den Islam vor. Eigentlich ist es aber ein Plädoyer, die eigene Geschichte der westlichen Zivilisation neu zu denken und die Kunst der Ambiguität zu pflegen.

Bei aller Begeisterung und allem Interesse für die Chancen und Möglichkeiten der modernen Kommunikations-Technologien und Computer-Welten bleibt für mich doch die Frage nach den Bedingungen und Grenzen unserer gegenwärtigen technisch dominierten Zivilisation zentral. Allzu deutlich scheinen die Probleme auf, die zu beseitigen einst der wissenschaftlich-technische „Fortschritt“ (seit David Hume) angetreten ist. Der moderne, genauer der westliche Mensch bemächtigt sich der Natur mit ihren „Gesetzen“ und schafft sich seine eigene technisch-mathematische Welt der Produkte und Waren. Dabei zerstört er die ’natürlichen‘, eigenmächtigen Grundlagen menschlichen Daseins als Lebewesen unter vielen in einer begrenzten planetarischen ‚Biosphäre‘. Bleibt also die Frage, wie es dazu kam, dass der westliche Mensch seit der Renaissance die Weltbühne betrat, um sie zu erobern, zu verbessern (Leiden zu verringern) und ’seine‘ Welt sich und seinen eigenen Ideen und Wahrheiten als den nunmehr absolut gültigen  zu unterwerfen, mit einem Wort: sie westlich zu zivilisieren begann. Dass viele Verheißungen sich dabei nicht erfüllt haben, wird nur denjenigen enttäuschen, der bisher alle geglaubt hat: Armut ist nicht beseitigt, Krankheiten wurden nicht endgültig ausgerottet, menschliches Unglück und Leid nicht verringert, nur verändert. Zudem hat der westliche Zivilisationsschub durch Kolonialismus und Nationalismus der Weltgeschichte zwei Geißeln beschert, die wie in kaum einem Zeitalter zuvor zu Kriegen und Massenausrottungen geführt haben. Wenn wir nun dank Wachstum und Industrieproduktion zwar einerseits ‚Wohlstand‘ schaffen, andererseits die Ressourcen der Erde restlos und unwiederbringlich ausplündern, das Angesicht der Erde nachhaltig verändern und all diejenigen Kulturen durch Verdrängung oder Assimilierung beseitigen, die ein anderes Wissen und einen anderen Umgang mit Mensch, Tier und Natur insgesamt pflegen, dann hat man eher den Eindruck, die westliche Kultur sei das Krebsgeschwür geworden, an dem die Welt als Ganze leidet. Ob eine Heilung dieses selbstzerstörerischen Prozesses überhaupt noch möglich ist, selbst wenn es gewollt wäre, ist nicht einmal sicher. Was aber hat zu dieser Entwicklung geführt, die in ihren Ergebnissen auf den ersten Blick so zweischneidig, so ambivalent ist?

Auch hierzu gibt es natürlich schon lange vielfältige Überlegungen. Ich bin nun auf ein Buch gestoßen, das mir doch sehr viel ergiebiger zu sein scheint als vieles, das ich bisher zu diesem Thema an Kritischem und Erhellendem gelesen habe. Das Buch und sein Autor sind auch deswegen so interessant, weil sie gar nicht eine „kritische Theorie“ des Westens intendieren, sondern eine recht aufschlussreiche Darstellung der islamischen Kultur bieten. Es geht ausdrücklich um die Erzählung einer „anderen Geschichte des Islams“: Thomas Bauer, Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin 2011. Der Münsteraner Islamwissenschaftler und Professor der Arabistik unternimmt hier eine von großer Sachkenntnis der arabischen Literatur geprägte Gedankenreise in die Welt der unentschiedenen Wahrheiten, in die Kultur der Ambiguität. Er greift auf Überlegungen unter anderem von Zygmund Bauman, dem polnisch-britischen Philosophen der Post-Moderne, zurück („Modernity and Ambivalence“, 1991) und definiert seinen erkenntnisleitenden Begriff Ambiguität so:

Ein Phänomen kultureller Ambiguität liegt vor, wenn über einen längeren Zeitraum hinweg einem Begriff, einer Handlungsweise oder einem Objekt gleichzeitig zwei gegensätzliche oder mindestens zwei konkurrierende, deutlich voneinander abweichende Bedeutungen zugeordnet sind, wenn eine soziale Gruppe Normen und Sinnzuweisungen für einzelne Lebensbereiche gleichzeitig aus gegensätzlichen oder stark voneinander abweichenden Diskursen bezieht oder wenn gleichzeitig innerhalb einer Gruppe unterschiedliche Deutungen eines Phänomens akzeptiert werden, wobei keine dieser Deutungen ausschließliche Geltung beanspruchen kann. (a.a.O. S. 27)

Es geht also nicht um Toleranz und auch nicht um Ambivalenz, denn beides setzt voraus, dass das Entgegengesetzte oder Widersprüchliche bekannt und definiert ist. Ambiguität verweigert sich gerade einer genauen Definition; sie hält zwei perspektivische Wahrheiten in der Schwebe. Nicht zufällig zitiert Bauer eingangs des zweiten Kapitels und später erneut Max Born, den Physiker der Quantentheorie, hat doch auch diese zur Anerkennung der Gleich-Gültigkeit zweier scheinbar widersprüchlicher Theoriemodelle im Bereich der Physik geführt. Was im Bereich der Quantenphysik die „Superposition“ ist bzw. die quantenmechanische Verschränkung, das kommt in ähnlicher Weise im Bereich der Literatur- und insgesamt der Kulturwissenschaften als Ambiguität heraus. Bauer legt  in dem zitierten zweiten Kapitel seines Buches über den Begriff der „Kulturellen Ambiguität“ ausführlich Rechenschaft ab. Überhaupt sei hier auf einige Rezensionen zur Anlage und zum Inhalt des Buches bei Amazon (siehe oben den Buch-Link) verwiesen.

Spannend ist, wie Bauers Blick auf die nachformative Phase des Islam und der arabischen Kultur  („sunni revival“, 10. – 13. Jahrhundert) zum analytisch-kritischen Rück-Blick auf  die eigene westliche Kultur wird, die sich nun unter dem Stichwort der Ambiguitätsintoleranz kennzeichnen lässt. Seit Descartes‘ berühmter methodischen Forderung des „clare et distincte“ in Definition und Argumentation gehört es zum Grundbestand westlichen Denkens, Unsicherheit und Unschärfe auszumerzen; sie scheint das große Übel zu sein, das sich dem zugreifend – objektivierenden analytischen Verstand widersetzt. Also besteht nun alle geistige wie technisch-wissenschaftliche Anstrengung darin, Eindeutigkeiten in Natur und Kultur herzustellen, denn nur sie ermöglichen Beherrschung, Ausbeutung und Dienstbarmachung: Zivilisation und Kultivierung im westlichen Sinne. Bestenfalls – und das ist nach einigen weltzerstörerischen Kriegen schon eine positive Leistung – kann die Duldung, also die Toleranz von widerstreitenden Ideen gefordert werden in der Hoffnung, dass sich im demokratischen Diskurs schon das „Wahre“ herausstellen, also Eindeutigkeit wieder hergestellt werde. Ambiguitätstolerantes Denken aber setzt anders an; es geht von dem Schwebezustand unterschiedlicher „perspektivischer Wahrheiten“ aus, die eben nicht eindeutig entschieden werden können.

Bauers Kapitel über die Geschichte westlicher und orientalischer Sexualität gehört zu den großartigen Beispielen, die die Fruchtbarkeit seines ambiguitätsorientierten Ansatzes aufzeigt. Ein umfangreiches Literaturverzeichnis verweist auf die thematisch breit gestreuten und profunden Kenntnisse Thomas Bauers. Hier findet man manches, was es erst noch zu entdecken gilt, will man diesem Denken, wie Bauer es vorschlägt, näher nachgehen. Verheißungsvoll ist es allemal, weil es auf eine Dimension hinweist, die eigentlich im Leben alltäglich, aber umso verdrängter ist: Dass es selten eindeutige Klarheit gibt bei Lebensumständen und -entscheidungen, kein eindeutiges Richtig oder Falsch, sondern vielmehr Unschärfen, Ambivalenzen und eben vielleicht auch Ambiguitäten. Wir müssten uns nur aus der Nische der Kunst entlassen, uns wieder neu auf sie einlassen und sie als Chancen eines offneren und nachhaltigeren Menschseins begreifen. Wir müssten die Kunst der Ambiguität erst wieder lernen, sollte auch aus der westlich-zerstörerischen Kultur einmal wieder eine duldsame und nachhaltige Kultur der Ambiguität werden.