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Toleranzkultur der Mehrwertigkeiten

Was der eine „Kultur der Ambiguität“ nennt, fasst ein anderer in die Forderung nach einer „Toleranzkultur“ der „Mehrwertigkeiten“. Die zufällige Begegnung zweier Bücher, die sich nicht zu kennen scheinen.

Zufällig las ich nach dem Buch von Thomas Bauer (siehe voriger Beitrag) Peter Sloterdijks aktuelle knappe Kulturtheorie der Religionen: „Gottes Eifer. Vom Kampf der drei Monotheismen„, 2007. Leider nimmt Bauer 2011 auf dieses Buch keinerlei Bezug, erwähnt es auch nicht im Literaturverzeichnis, obwohl es in demselben „Verlag der Weltreligionen“ (Insel) erschienen ist. Vielleicht ordnet er Sloterdijk unter die traditionellen Interpreten eines von Haus aus gewaltsamen Islam ein und übergeht ihn darum. Dabei sind die Parallelen nicht zu übersehen. Nach einer umfassenden Durchsicht der drei Monotheismen und ihrer „polemogenen“ Valenzen, die Sloterdijk wesentlich in ihrem Eifer für eine „einwertige“ Wahrheit (also ohne die Möglichkeit der Falschheit und Kritik) begründet sieht, kommt er ausdrücklich auf die Thesen von Jan Assmann zu sprechen, der den Ursprung des Monotheismus in der polemischen Ausformung einer ausgrenzenden und ausschließlichen „Gegen-Religion“ zu ägyptisch-orientalen Kulten sieht. In diesem Zusammenhang skizziert Sloterdijk die Aufgabe eines „Kulturvergleichs, in dem sich die Intoleranzkulturen des Nahen Ostens und Europas mit dem Wiederkehrrecht einer vergessenen und verdrängten Toleranzkultur ägyptischen (potentiell auch mittelmeerischen und indischen) Typs auseinanderzusetzen hätten“ (a.a.O. S. 210) In einer sprachlich und gedanklich gelungenen Paraphrase und Interpretation von Lessings Ring-Parabel hatte Sloterdijk schon im Kapitel vorher auf die Notwendigkeit und Unabweisbarkeit „mehrwertigen“ Denkens verwiesen, das sich des eifernden Reduktionismus auf die monotheistische „Einwertigkeit“ des Wahrheitsanspruchs in all ihren religiösen und nachreligiösen Spielarten verweigert. Mit diesen Gedanken kommt Sloterdijk dem sehr nahe, was Thomas Bauer mit der „Kultur der Ambiguität“, also der ’schwebenden‘ Wahrheiten ausgedrückt hatte; jedenfalls drängen sich mir die Parallelen bei dieser zufällig aufeinander folgenden Lektüre beider Werke auf.

Einig sind sich beide Autoren darin, dass es an Stelle des ‚Dialogs‘ oder ‚Trialogs‘ von Theologen und Theologien und auch an Stelle der thematischen Blickverengung reiner Religionswissenschaften und metaphysisch spekulierender Philosophien einer umfassenden Kulturwissenschaft bedarf, die sich des kulturell-evolutiven Erbes der Menschheit explizit widmet. Sloterdijk ist zuzustimmen, wenn er am Ende seines Buches fast als Appell  formuliert:

In allen Formen des metaphysisch-religiösen Eiferertums meint der Diagnostiker einen  kryptosuizidalen Drang zu einer jenseitigen Welt nachweisen zu können, in der begreiflicherweise vor allem diejenigen reüssieren möchten, die an den diesseitigen Tatsachen scheitern. … Globalisierung heißt: Die Kulturen zivilisieren sich gegenseitig. Das Jüngste Gericht mündet in die alltägliche Arbeit. Die Offenbarung wird zum Umweltbericht und zum Protokoll über die Lage der Menschenrechte. Damit komme ich auf das Leitmotiv dieser Überlegungen zurück, das im Ethos der Allgemeinen Kulturwissenschaft gründet. Ich wiederhole es wie ein Credo und wünsche ihm die Kraft, sich mit Feuerzungen auszubreiten. Der zivilisatorische Weg ist allein noch offen.“ (a.a.O. S. 216 f.)