Reicht „wissenschaftlich“ als Kriterium der Wirklichkeit? In welcher Perspektive wird geforscht und gedacht? Welches sind unsere speziellen kulturellen Bedingtheiten? Keine neuen Fragen, aber stets wichtige. Und aktuell besonders notwendige.
Wir neigen oft dazu (und ich kann mich selbstverständlich nicht davon frei sprechen), die Ereignisse um uns herum aus einer sehr einseitigen Perspektive wahrzunehmen. Zusätzlich zu unseren subjektiven Bedingtheiten und zu unseren individuellen Vorlieben setzen wir unsere geistigen Auseinandersetzungen, Diskussionen und Diskurse in Buch, Zeitschrift oder im Netz auf eine Perspektive auf, die durch unser Herkunftsland und -sprache bestimmt ist. Es ist deswegen normalerweise die deutsche Perspektive. Manchmal gelingt uns auch schon eine europäische Perspektive, allerdings selten genug, wie sich gerade in der sehr nationalstaatlich geführten Politik-Debatte über die Euro-Schulden-Sonstwas-Krise zeigt. Geschichtsbetrachtungen freilich, seien es mehr belletristisch-feuilletonistische Essays oder historische Rekonstruktionen auf der derzeit gültigen wissenschaftlichen Basis, lassen sich schwerlich auf eine nationale Perspektive begrenzen, ist die nationale Idee und die Praxis der Nationalstaaten doch eine recht junge Erscheinung in Europa. Litereraturgeschichte, Kunstgeschichte, Musikgeschichte, Philosophiegeschichte, Wissenschaftsgeschichte usw. sprengen den nationalstaatlich begrenzten Rahmen. Kultur ist international, sagen wir dann leichthin, meinen damit aber im Allgemeinen nur, dass sie nicht nur rein „deutsch“ verständlich zu machen ist. Meist unbedacht bleibt dabei aber die Voraussetzung, dass es selbstverständlich eine europäische Betrachtungsweise ist. Denn Kultur- und „Geistesgeschichte“ gibt es nur in Europa, oder etwa nicht?
Dumme Frage, natürlich nicht, klar. „Natürlich“ gibt es anderswo auch Kultur und Geist und Geschichte, aber eben halt eine „andere“, und die hat mit „unserer“ europäischen wenig zu tun, hat es den Anschein, – zumindest sehr wenig zu tun mit der Perspektive, aus wir tagtäglich lesen – schreiben – denken – reden – diskutieren. Die „andere“ Kultur kommt allenfalls als etwas Exotisches, Touristisches in den Blick, in der großstädtischen Nachbarschaft allenfalls als „Multi-Kulti“, aber „normalerweise“ sind wir eben nur „bei uns“ daheim. „Bei uns“ ist dann die spezifisch deutsche – europäische – westliche – abendländische (womöglich noch christlich geprägte) Umgebung. Sie prägt uns in alltäglicher Handlung wie im alltäglichen Denken viel mehr und stärker, als es uns bewusst ist. Für den Alltag reicht das doch auch, meinen wir.
Ich bin da nicht mehr so sicher. Schaut man nämlich genauer hin, dann wird es auch bei heute aktuellen Diskussionsthemen (z.B. Urheberrecht bzw. Einstellung zur „Kopie“, oder Energiepolitik oder ‚digitaler Revolution‘) zu unterschiedlichen Beurteilungen führen je nach dem, welchen Standpunkt ich „global“ einnehme und welche Perspektive ich wähle. Ich möchte das an einem Punkt verdeutlichen, der zum allgemeinen Konsens in unserer Kultur zählt, dass nämlich die wissenschaftlich-technisch-industrielle Revolution auf den spezifisch abendländischen Tugenden und Voraussetzungen beruht. Dies aber kann begründet bezweifelt werden. Lesen wir dazu einmal bei dem US-Historiker Robert B. Marks nach, was der über den oft hergestellten Zusammenhang zwischen abendländischer Wissenschaft und industrieller Revolution schreibt:
Es gibt jedoch kaum Anhaltspunkte dafür, die europäische Wissenschaft in Verbindung mit den Anfängen der Industriellen Revolution oder mit ihren revolutionären technischen Neuerungen zu bringen. Dies hat vielerlei Gründe….
So lange man glaubte, die Industrielle Revolution sei von der Suche nach Arbeit sparenden Maschinen in Gang gesetzt worden, mag es sinnvoll gewesen sein, den technologischen Fortschritt als entscheidendes Merkmal anzusehen. Woran es aber tatsächlich mangelte, war – wie oben gezeigt – Boden, nicht Arbeit: Folglich waren es Kohle und Kolonien, die diesen Mangel behoben und es England ermöglichten, sich als erstes Land zu industrialisieren. Grundsätzlich waren die Prinzipien der in der Industriellen Revolution verwendeten Technologien in China bereits bekannt. Was ihre Entwicklung in England statt in China möglich machte, waren – wie zuvor angedeutet – die besonderen Umstände in England, die den Brennstoff [Kohle] für die ersten, außergewöhnlich ineffizienten Dampfmaschinen praktisch frei verfügbar machten. China hatte dieses Glück nicht.
Selbst wenn wir den neuen Technologien – besonders Dampfmaschinen, der Eisen- und später Stahlproduktion – eine namhafte Rolle in der Industriellen Revolution beimessen wollen, gibt es kaum Belege dafür, dass die Mechaniker und Tüftler, die solche Maschinen erfanden, „Wissenschaftler“ waren oder dass sie überhaupt wissenschaftliche Kenntnisse besaßen….Industrialisierung in England war also durch eine Unmenge Faktoren bedingt, zu denen freilich die wissenschaftliche Revolution nicht gehörte. [Robert B. Marks, Die Ursprünge der modernen Welt. Eine globale Weltgeschichte, 2006 (US: 2002), S. 133f.]
Vielmehr lagen die „besonderen Umstände“ unter anderem im Silberbedarf des frühneuzeitlichen Chinas begründet, den man mit dem südamerikanischen Silber, also aus kolonialer Ausbeutung der Erze, befriedigen und damit Handelsströme umlenken und Machtgewichte neu bestimmen konnte. Sind „Kohle und Kolonien“ (und Sklaven) dann also nur die historischen „Zufälle“, die zum überraschenden Überholen und dann Vorsprung des Westens gegenüber Indien und China führten? So liest es sich bei Marks. Der „ideengeschichtliche“ und durch wissenschaftliche Forschung getriebene „Fortschritt“ erweist sich dann als Mythos, gewissermaßen als Gründungsmythos der Überlegenheitsepoche der abendländischen Zivilisation. Ganz kurz auf die Gegenwart geschlossen: Die heutige (Wirtschafts-) Politik Chinas und Indiens holt also nur einen Entwicklungsschub nach, natürlich heute unter ganz anderen globalen Bedingungen, den die westliche Welt im 18. / 19. Jahrhundert begründete und durch mehrere „Weltkriege“ (auch der Krimkrieg war ein solcher) zu einseitigem Vorteil zu zementieren suchte. Aus chinesischer Perspektive muss allein um der eigenen kulturellen Tradition und Selbstbehauptung willen sowohl die Debatte um die in der abendländischen Aufklärung begründeten „Menschenrechte“ als auch um das Eigentumsrecht an „Originalen“ und die Verteufelung und letztlich Kriminalisierung von „Kopien“ ganz anders geführt und mit sehr anders gelagerten Begründungen und Selbstverständnissen unterfüttert werden, als „uns“ das westlich selbstverständlich und aufgeklärt-humanitär gerechtfertigt zu sein scheint. Auch „Wissenschaft“ hilft da nicht so einfach weiter, weil das Verständnis von dem, was als „wissenschaftlich“ zu gelten hat, ebenfalls kulturell und damit perspektivisch bedingt ist.
Was hilft, ist zu aller erst die Augen über den Tellerrand der abendländischen Perspektive zu erheben. Es ist darum sehr hilfreich, wenn auch einmal „Weltgeschichte“ nicht aus europäisch-abendländischer“ Perspektive geschrieben wird, sondern aus einer globalen Perspektive heraus (siehe das zitierte lesenswerte Buch von Robert Marks), die sich natürlich nie vollständig von der eigenen Herkunft lösen kann. Und das muss ja auch nicht sein. Nur bewusst sollte es sein, aus welcher Perspektive man denkt, liest, redet, schreibt, diskutiert. Der seitens mancher „Netizens“ oft etwas verbissenen ideologischen Diskussion um das Ausmaß und die inhaltliche Tragweite („Paradigmenwechsel“) dessen, was zunächst einmal mit dem Arbeitstitel „digitale Revolution“ versehen werden kann, täte es auch sehr gut, sich ihrer eigenen westlich-wissenschaftlichen „Borniertheit“ bewusst zu werden und das, was jetzt aus „unserer“ Sicht selbstverständlich „dran“ ist, in den weiteren Horizont einer globalen, wirklich interkulturellen Diskussion und Perspektive zu stellen. Den Diskurs dazu muss man allerdings erst erfinden. Das „Weltwirtschaftforum“ in Davos allein (Vorsicht, Ironie) kann es ja wohl kaum sein.