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Missionare an der Front?

Nichts Neues unter der Sonne, zumindest nicht so viel, wie Nerds und manche Internet-Aktivisten gerne behaupten. Utopien, die Wirklichkeit verändern wollen, fangen am besten mit der nüchternen Betrachtung eben dieser Wirklichkeit an. Es gilt auch, über die „eschatologische“ Ideologie und ihre technizistische Hybris zu streiten.

In die Nähe quasireligiösen Messiasglaubens rückt Andrian Kreye in einer kritischen Betrachtung den Hype um die „Digitale Revolution“.

Höhepunkt der digitalen Verzückung ist die Theorie der „Singularity“. Das ist eine Überlegung, die der amerikanische Informatiker Ray Kurzweil angestellt hat. Der prophezeit einen Zeitpunkt, an dem die Maschinen die Intelligenz des Menschen überflügeln und das Geschick der Welt übernehmen. Das erinnert an ein Leitmotiv des amerikanischen Protestantismus, der „Rapture“, des Erlösungsmoments mit der Rückkehr des Messias. Das klingt nicht nur nach Science Fiction. Das ist es auch.

Will man die digitalen Technologien nüchtern betrachten, sollte man die Rolle des Internets für die Volksbewegungen in Schwellen- und Entwicklungsländern sicher nicht unterschätzen. Doch in der westlichen Welt sind die großen Revolutionen schon zwei-, dreihundert Jahre her. Was sich in den Industrienationen durch digitale Technologien verändert hat, ist viel weniger glamourös – der Medienvertrieb, die Kulturvergütung, die Werbung und der Einzelhandel.
(Adrian Kreye, Süddeutsche Zeitung, Blog v. 02.06.2012)

Noch kräftiger haut Matthias Matussek im neuesten Spiegel unterm dem Titel „Der neue Mensch.  Über die alberne Hoffnung auf eine Jugendrevolte im Netz (Spiegel 23 vom 04.06.2012) in eine ähnliche Kerbe, wenngleich sehr viel gröber, undifferenzierter und deswegen an manchen Stellen einfach falsch (die Piraten sind keine Jugendbewegung, und die hoch gelobten Büchertische vor den Mensen der 68er bestanden zumeist aus „Raubdrucken“). Richtig aber scheint mir seine Beobachtung zu sein, die er so beschriebt:

In den albernen Trivialmythen der neuen Netznomaden fließen unübersehbare elemente der Science-Fiction-Literatur und der Comics zusammen. Die Kolumne des sicherlich amüsantesten Netzkolumnisten, des Irokesen Sascha Lobo, heißt: „Die Mensch-Maschine“. Darin steckt der Cybernautentraum von erlösungund ewigem Leben im Netz, natürlich eine kindische theologische travestie, die aber unendlich viele Phantasien befeuert. Der neue, der erlöste, der gerechtfertigte Mensch ist der verkabelte – erste exemplare lassen sich auf den Parteitagen der Piraten hinter dem Kabelsalat ihrer Rechner besichtigen. Die reale Welt, das ist der Grundverdacht vieler Piratenaktivisten, verdankt ihre Probleme Programmierfehlern, die zu beheben wären.

An den kritischen Beobachtungen und Beurteilungen beider Autoren ist viel Wahres dran. Der missionarische Eifer mancher Internet-Aktivisten wirkt schon recht naiv, und die Fixierung auf Technik und das nächste große „Ding“ rückt diese „early-adopters“ in die Nähe derer, die den Alltag mit science fiction verwechseln. Dies hat dann in der Tat mit den zitierten Autoren (Ray Kurzweil!) einen stark religiösen Charakter: Wir glauben nun an das heilsame Paradies des Internets. Das ist natürlich Quatsch. Auch das, was viele Blogs und Internet-Diskussionen in Foren und bei Google+ für das Wichtigste halten, nämlich den „freien Diskurs im Netz“, ist bei näherem Hinsehen nicht viel anderes als eine Spielwiese am Rande eines neuen Kaufhauses: Das Internet wird bestimmt und angetrieben vom Kommerz, wie Adrian Kreye sehr richtig zusammen fasst. An Google+ sind für Google auch weniger einige spannende Diskussionen wichtig als die neu herzustellenden Verknüpfungen mit Shopping- und Freizeit-Tipps – und Werbung natürlich. Darum heißen die ‚treibenden Kräfte‘ des Internets auch Apple, Google, Amazon und es sind nicht irgendwelche Blogger. Hier gilt es sehr viel mehr Nüchternheit zu bewahren.

Das gilt auch gegenüber den dezidiert politischen Interpretationen der Internet-Szene, wie sie zum Beispiel +Jens Best  mit (bekannter) linker Polemik und ideologische Einseitigkeit vertritt. Sein verglichsweise sachlich gehaltener Kommentar zum Blog-Beitrag von Adrian Kreye führt als Grundmotiv ein recht unbestimmtes Konstrukt einer „Informations-Evolution“ an, die von „vernetzter Empathie“ begleitet ist. Diesem „Utopien-Wettstreit“ keine reale Chance zu geben, hält er für „schandbar“. Eine recht krude und ebenso offensiv-missionarisch vertretene Position, wie man sie weniger eloquent vielfach in Netzdiskussionen finden kann. Das hilft wenig, dagegen ist Aufklärung, Nachdenken und vor allem Sachlichkeit und  Nüchternheit in der Beurteilung angezeigt.

Von langer beruflicher Kenntnis der Situation in den USA geprägt ermöglicht Adrian Kreyes Beitrag zugleich zu einer Art ‚Blick von außen‘ auf die hiesige Netzdiskussion. Das gelingt ihm gut und ist besonders hilfreich und lesens- und bedenkenswert. Darüberhinaus aber wäre zu bedenken, wie sehr die heutige Begeisterung für die viel gerühmten emanzipatorischen, libertären und radikal-humanistischen (fast ist man geneigt zu sagen: eschatologischen) Möglichkeiten des Internets und seiner sozialen Netzkultur  am Fortschrittsgedanken, dem Grundaxiom der Neuzeit, teil hat und damit auch dessen Schattenseiten erbt. Denn der Fortschrittsgedanke seit Francis Bacon („Wissen ist Macht“) enthält eine Heilsverheißung, ein  Versprechen: Dass es den Menschen reicher, freier und glücklicher macht durch nova scientia, neue Methoden, empirische Erkenntnisse, rationaler Beherrschung der Naturkräfte und sozialer Gestaltung der Gesellschaften hin auf ein endlich zu erreichenden Zustand der Vollkommenheit. Die Aufklärung, namentlich G.E. Lessing, hat in der Übernahme der Gedanken Voltairs für Deutschland das Programm wissenschaftlich-pädagogisch formuliert: Das Programm der Aufklärung bedeutet die Erziehung des Menschengeschlechts auf der Basis der Vernunft und der wissenschaftlichen Erkenntnis. Einhundert Jahre später hat die industrielle Revolution den materiellen Teil dieses Heilsversprechens scheinbar eingelöst. „Scheinbar“ sagen wir heute, weil wir die Kehrseite kennen und auch wissen, welche äußeren Bedingungen und zufälligen Gegebenheiten (Kohle, Kolonien, Sklaverei) zum bisher beispiellosen Erfolg der westlichen, wissenschaftlich-technischen Zivilisation geführt haben. (Ich habe mich dazu schon im vorigen Blogbeitrag geäußert.) Heute sehen wir zudem die Zwiespältigkeit des technisch bedingten „Fortschritts“ in den sozialen Folgen und Kosten ebenso wie in einer ökologischen Katastrophe bisher nicht gekannten Ausmaßes. Die „Logik des Immermehr“ lässt zwar die technischen Entwicklungen immer neue Höhepunkte erreichen (5 nm Produktion, Moorsches Gesetz), führt aber gleichzeitig in eine Katastrophe der Energieversorgung, der Klimaveränderung und der Artenvernichtung, also des genetischen Substanz dessen, was es auf diesem Planeten an Leben gibt. Man muss nicht erst Adornos „Dialektik der Aufklärung“ zitieren, um sich bewusst zu machen, dass der wissenschaftlich- technische Fortschritt nach Maßgabe äußerster Rationalität eine Chimäre ist, vielleicht gar eine Hydra, deren religiöser Eifer uns verwehrt, die Fratzen los zu werden, die uns „dank“ Internet zu einem vollkommen manipulierbaren, „gläsernen Menschen“ machen, hinter dem George Orwells Befürchtungen verblassen.

Die „Front“ dieses Diskurses müsste also dort verlaufen, wo man die „Missionare“ ihrer eschatologischen Ideologie überführt und sich ihrer technizistischen Hybris entgegenstellt.