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Göttliches im Netz

„Es gibt keinen Gott im Netz.“ Na sowas! Das hat man doch immer so geglaubt, oder nicht? Über etwas Abseitiges in der Netzdiskussion. Über das Gewicht der Religion. Und über Wichtigeres für die politische Diskussion.

Ach ja, die Religion, noch immer treibt sie ihr Unwesen… (großer Seufzer) und wird noch immer nicht / immer weniger in ihrer Funktionsweise verstanden (noch größerer Seufzer). Wer offenkundig überhaupt nichts davon versteht, ist Sascha Lobo. In seiner jüngsten Spiegel-Online-Kolumne „Mensch – Maschine“ legt er in breiten Ausführungen beredt davon Zeugnis ab, dass er in Sachen Religion ein völliger Ignorant ist. Es geht um die in den letzten Woche durchs Netz geisternde Diskussion um den „quasireligiösen“ Charakter des Internet-Wunderglaubens mancher Nerds oder auch nur Technik-Freaks und ihrer politischen Ableger (Piraten). Andrian Kreye und Matthias Matussek hatten davon gesprochen und provokant, aber begründet darauf aufmerksam gemacht, dass manche Meinungen und Haltungen von Internet-„Anhängern“ (eben nicht nur „usern“) das Netz als neues Heilsversprechen begreifen, das die Übelkeiten der jetzigen Welt (Kapitalismus, Intransparenz, Unwissen) schlagartig beseitigen könne. Die Technikgeschichte zeigt immer wieder, wie das säkulare Bewusstsein im Glauben an die Macht der Technik religiöse Elemente eines Heilsglaubens übernimmt und „säkularisiert“. Dies geschieht immer wieder, und übrigens nicht nur im Bereich der Technik. Religion als Überwältigtwerden von etwas Größerem / Höherem (Schleiermacher sprach vom „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“) und Glaube an eine Erlösung aus allen Übeln ist offenbar tief im Menschen verwurzelt. Sie kann die unterschiedlichsten Formen und Ausprägungen annehmen, dabei selten den Charakter eines unvermittelten Glaubens („ideologisch“) und eines tiefsitzenden Sendungsbewusstseins („missionarisch“) verleugnen. Dies könnte man vielmehr als die Erkennungszeichen religiöser Mentalitäten benennen. Dazu hat die Religionswissenschaft mit all ihren Spezialisierungen (Religionspsychologie, Religionssoziologie, Religionsphilosophie, Religionsgeschichte usw.) klärend beigetragen. Es ist durchaus bedeutsam, dass heute oftmals eher von Kulturwissenschaft gesprochen wird, weil „Religionswissenschaft“ zu unpräzise ist, um ein bestimmtes Gegenstands- und Aufgabenfeld zu beschreiben. Es ist vielmehr eine Querschnittsaufgabe anthropologischer Fundamentalwissenschaften, die Bedeutung der „Religion“, also religiöser Vorstellungen und Verhaltensweisen des Menschen, zu beschreiben, zu systematisieren und in ihren Formen und Wirkungen zu erkennen. Ins Blickfeld kommt dabei natürlich (!) Religion als ein mentales oder besser kulturelles Produkt des Menschen; etwas Übernatürliches ist im Bereich der Religions- und Kulturwissenschaften jedenfalls nicht zu finden.

Wenn nun Sascha Lobo den als Vorwurf verstandenen Aufweis religiöser Strukturen in Internet-Diskussionen und -Verheißungen mit dem Satz begegnen möchte „Im Internet gibt es keinen Gott“, dann ist das einfach dümmlich. Der Zusammenhang machts nicht besser:

Das gefährlich Religionsähnliche entsteht, wenn man vergisst, dass das Netz von Menschen absichtlich geschaffen ist und von Menschen gestaltbar. Jeder Pixel ist an seinem Platz, weil irgendjemand es so wollte (oder die Folgen nicht überblickte), irgendjemand ist verantwortlich, es gibt keinen Gott im Netz  und damit kein Schicksal, in das man sich klaglos fügen müsste. Es herrsche also der Zweifel, der Widerspruch: das Gegenteil des Glaubens. (Sascha Lobo, SpOn)

Nun, Glaube und Zweifel gehören immer zusammen, und „menschengemacht“ ist eben überhaupt kein Argument gegen Religion, sondern die heutige Beschäftigung mit Religion geht gerade davon aus, dass sie zum Menschen gehört wie Neugier, Sex und Wissenschaft. Ob der Einzelne den Gegenstand der Religion dann für sich selbst hypostasiert und subjektiv zu etwas Übernatürlichem erhöht, ist eine Frage der eigenen Befindlichkeit oder (salopp gesagt) des persönlichen Geschmacks. „Es gibt keinen Gott im Netz“ ist jedenfalls keine Aussage, die irgend etwas mit dem Nachweis religiöser Strukturen und Denkformen „im Netz“ zu tun hat. Auch der Atheist, der sagt: „Es gibt keinen Gott.“ kann zutiefst religiös sein; meist ist das religiöse „Objekt“ nur verschoben. So vertrackt ist das mit der Religion. Abgesehen von der Vielzahl religiöser und religiös-fundamentalistischer Webseiten (Religiöses steht da an zweiter, manche behaupten sogar an erster Stelle der Anzahl und Verbreitung von Webseiten) hat das auch niemand behauptet. [Nebenbei: Vielleicht ist nur der absolute Skeptiker, der für sich jeden, aber auch wirklich jeden gewissen Erkenntnis- und Lebens- Wert ausschließt, wirklich areligiös; aber obs den wirklich gibt, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden.] Sich mit religiösen Strukturen und Verhaltensweisen im Netz und seitens der Netizens zu beschäftigen, ist also eine durchaus sinnvolle Aufgabe; sie geht natürlich weit über die knappen Bemerkungen von Andrian Kreye und Matthias Matussek hinaus. Wenn sich dann ein angeblich nüchtern-gottloser Netzaktivist von der Diskussion genervt wie folgt äußert, dann zeigt das nur, dass man mit dem Thema offensichtlich ins Schwarze getroffen hat.

„Nach der großen Spirtualität, dem AllEinen und diversen Analogien, die schwefliger und hinkender kaum sein können, wäre es jetzt an der Zeit, wenn die Phärisäer und die Sadduzäer des Internet ihre Brotzeit einpacken und weiterziehen zur Nanotechnologie, synthetischen Biologie oder sonstwohin. Ich kriege langsam Plaque wegen all diesem Gebelle.“ +Jörg Wittkewitz

Wie heftig Religionen unsere ach so säkularen Gesellschaften der Moderne (und meinetwegen auch der Postmoderne oder welcher Moderne auch immer) sogar im aufgeklärten Westeuropa gestalten, zeigt sich gerade heute wieder, an diesem merkwürdigen kirchlichen Feiertag Fronleichnam. Im Internet, zum Beispiel bei Wikipedia, aber auch an vielen anderen Stellen, kann man sich recht schnell darüber orientieren, dass dieses katholische Fest die Feier der Selbstermächtigung der römischen Kirche über Heil und Ewigkeit ist. Nach dem Anspruch der klerikalen Macht, durch den Priester das reale Brot in den ebenso realen „Leib Christi“ zu verwandeln (dogmatisiert auf dem IV. Laterankonzil 1215), folgte die Proklamation des Festes des „heiligen Leichnams“ auf dem Altar als allgemeiner Feiertag der katholischen Christenheit durch Papst Urban IV, 1264. Fronleichnam gehört damit seit Jahrhunderten zum Kernbestand katholischen Kirchen- und Heilsverständnisses. Während der Gegenreformation beim Trienter Konzil (1545 – 1563) wurde es nocheinmal betont als Abgrenzung gegen jeglichen „Protestantismus“. Fronleichnam gehört also zum „Markenkern“ der katholischen Kirche und Frömmigkeit. Das sei nur betont, damit mit niemand so tue, als ginge es heute bei den Prozessionen nur um frommes Brauchtum oder irgendein frömmlerisches Allotria. Fronleichnam ist nach kirchlichem Selbstverständnis immer eine Machtdemontration der römisch-katholischen Kirche (die Orthodoxie kennt ein solches Fest nicht), eine antisäkulare Selbstdarstellung des christlichen Glaubens römischer Provenienz in einer säkularen Welt. Noch knapp die Hälfte der Bundesländer in (Süd-) Deutschland begeht dieses Fest als gesetzlichen Feiertag. Wenn sich also jemand über das religiös-kirchliche „Gebelle“ (Wittkewitz) aufregen möchte, dann hätte er hier viel Gelegenheit dazu.

Aber dies ist nicht wirklich wichtig. Niemand will den katholisch-frommen Süddeutschen einen arbeitsfreien Tag madig machen. Irgendwann wird die teilweise immer noch „barocke“ Mentalität vieler kirchlichen Süddeutschen von selber auf den Trichter kommen, was ihnen die Kirchen eigentlich heute noch zumuten. Viel wichtiger sind Nachrichten, nur so zufällig heute Morgen herausgegriffen, wie diese: Die SCHUFA will mit Facebook-Datensammlungen so richtig Kasse machen. Datenbeauftragte und Verbraucherschützer sind entsetzt über diese „Grenzüberschreitung“. Astrid Kasper, Leiterin der Unternehmenskommunikation der Schufa, kann dagegen nichts Schlimmes an der Ausforschung finden. Es gehe lediglich „um die wissenschaftlichen Möglichkeiten der Einsichtnahme, aber auch der Bewertung von Informationen aus dem Netz“. (so in der Berliner Morgenpost). Das wäre doch ein Punkt zum Nachdenken und zu kritischem Engagement, Freunde! (siehe +Christoph Kappes‘ besonnene Beurteilung dazu.) Oder auch diese Meldung hier: „Erde steht vor dem Kollaps.“ Es gibt also wahrlich genug Sinnvolles zu tun. Weniger das Göttliche im Netz als das Menschliche auf der Erde steht an. Und wenn das Netz dabei als Technik und Werkzeug helfen kann, umso besser!

UPDATE: Diskussion dazu bei Google+.

Eine Antwort auf „Göttliches im Netz“

> Jeder Pixel ist an seinem Platz, weil irgendjemand es so wollte (oder die Folgen nicht überblickte),
Das habe ich in der 8AHS in Philosophie auch geglaubt, mein Lehrer lachte
und sagte, dieses wissenschaftliche Modell kommt aus der Zeit der mechanischen Uhrmacher,
bevor es Unschärferelation, Chaostheorie und Systemtheorie gab.
Wenn alles so streng genommen deterministisch auf einem Multiprozessor Multitask, Multithreading OS wäre, dann hätte die IT viel weniger zu tun. Wieviel nicht vorhersehbare systemische ungewollte Interaktionseffekte bei Benutzerbedienung von Software in Zusammenhang mit Hardware und OS?
Im Nachhinein ist das immer vollkommen logisch deterministisch, wie Schrödingers Katze, die lebt oder tot ist, aber im Voraus können nie alle Möglichkeiten immer gedacht werden.

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