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>Ich habs gelesen

>Es gehört schon zu den Merkwürdigkeiten unserer Tage, dass man sich dann, wenn man sich zu einem Buch äußern möchte, ausdrücklich betonen muss, dass man es auch gelesen hat. Seit Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ ist das keine Selbstverständlichkeit mehr, im Gegenteil. Die Spitzenrepräsentanten unseres Staates, Bundespräsident und Bundeskanzlerin, waren sich schon vor dem Verkaufsstart des Buches am 1. September einig, dass man es nicht zu lesen brauche. Ein paar Auszüge reichten Frau Merkel um festzustellen, dass Sarrazins neues Buch „nicht hilfreich“ und „diffamierend“ sei, und Wulff forderte schon vor Erscheinen des Buches die Bundesbank zur „Schadensbegrenzung“ auf und wies damit sehr deutlich darauf hin, dass nach seiner Meinung Sarrazin umgehend zu entlassen sei. Anschließend konnte man – Sie erinnern sich noch? die Zeit ist so schnelllebig, das war noch vor Stuttgart 21 und vor dem Castor-Transport! – von zahllosen Politikern den übereinstimmenden Chor der Entrüstung hören und flugs auch in den Feuilletons der überregionalen Zeitungen (FAZ, SZ, taz – hier nur ein Beispiel) lesen, wie jeweils ein fachmännischer Beitrag eines Soziologen, einer Biologin, eines Politologen die Verknüpfung Sarrazins von Bildungsforschung und „Biologismus“ als hanebüchener Unsinn entlarvte und dies ja auch direkt zum Nationalsozialismus (+ + +) geführt habe. Fast hätte ich gesagt: Der fromme Leser glaubts… 🙂

Ich weiß nicht, wer von all seinen laut- und schreibstarken Kritikern sein Buch wirklich gelesen hat, Professor Wehler offenbar, und vielleicht auch Herwig Birg (zitiert nach dem focus), denn die beiden haben sich sehr viel zurückhaltender und sachlicher geäußert. Das Buch von Thilo Sarrazin hat es in sich, wenn man es gründlich liest. Da sind nicht nur die vielen Zahlen und Tabellen, die beklagt werden, die aber doch gerade Belege für seine Meinung sind, da sind noch mehr Verweise auf Literatur, wissenschaftliche Untersuchungen, Quellen usw. Allein wenn man seine Anmerkungen wenigstens zur Kenntnis nehmen will, wird die Lektüre schon sehr anstrengend und auch für einen flotten Leser langwierig – vom selber Nachprüfen ganz zu schweigen.

Zum Selberdenken wird man allerdings bei der Lektüre seines Buches sehr stark angeregt, und das ist angesichts seiner Themen schon einmal sehr gut. Denn es geht Thilo Sarrazin ja gar nicht „nur“ um Ausländer und Integration, es geht ihm in den langen Kapiteln des Buches vielmehr um eine faktenreiche Darstellung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Hartz IV – Empfänger und einer politischen Bewertung einer solchen sich selbst stabilisierenden Transfer-Gesellschaft; es geht ihm um Bildungsfragen und Bildungspolitik angesichts offenkundigen Schulversagens (siehe PISA-Studien); es geht ihm schließlich lang und breit um Demografie, um Demografie, um Demografie, nicht nur aus Gründen der Bezahlbarkeit der Renten und der künftigen Lasten der nächsten Generationen – hier ist er mit dem Bevölkerungsforscher Herwig Birg völlig d’accord – , sondern gerade auch deswegen, weil dies Thema von der Politik der letzten 10 Jahren völlig verdrängt und ignoriert worden ist; und es geht Sarrazin um die Zuwanderungspolitik, ihre Parameter und Auswirkungen, wovon dann die Probleme mit der Integration ein Unterthema darstellt.

All diese Themen sind brennend aktuell und sind schon deswegen wert, offen und öffentlich diskutiert zu werden. Dass Sarrazin zur Unterstützung seiner Thesen dann wiederholt auf bestimmte Zweige der Intelligenzforschung zurückgreift, bleibt allein sein Geheimnis: Es sind nicht die besten und stärksten Abschnitte seines Buches, und er müsste das eigentlich auch wissen. Nur entschärft diese Nebenlinie seiner Argumentation weder die von ihm aufgezeigten Fakten (um sie müsste erst einmal gestritten werden: stimmt seine Faktenbasis?) und erst recht nicht seine daraus gezogenen Schlussfolgerungen: Die sind als seine Meinungsäußerung nun wirklich nicht nur diskussionswürdig, sondern und auch provozierend genug, um diskussionsbedürftig zu sein!

Es ist einfach nur schade, dass Sarrazin auf die Integratiosndebatte verkürzt wird, erst recht wenn es dabei nur um seine anfechtbaren Auffassungen zur Intelligenzforschung geht. Aber diese Verkürzung der Debatte um Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ ist für mich ein Zeichen dafür, dass es tatsächlich wohl nur die wenigsten wirklich ganz gelesen haben…

Nun denn: ICH HABE ES GELESEN ! Es lohnt sich.