>Neueste Äußerungen des Papstes, die als Vorabmeldungen der jüngsten Buchveröffentlichung von Interviews mit dem Papst (Peter Seewald, „Licht der Welt. Der Papst, die Kirche und die Zeichen der Zeit“) ein lautes Rascheln im Pressewald verursacht haben, lassen den Beobachter zwar aufhorchen, aber doch gleich wieder fassungslos den Kopf schütteln. Man liest es, denkt nach und hält es für schlicht unfassbar. Von den Jubeltönen der katholischen Kommentatoren, dies Interview zeige die Wendung des Papstes zur Moderne und die Fixierung auf Kondome sei „lächerlich“, will ich gar nicht erst reden.
Der Zusammenhang und genaue Wortlaut der Ratzinger-Äußerung ist wichtig. In begründeten Einzelfällen könne es männlichen Prostituierten als „ein erster Schritt … auf dem Weg hin zu einer anders gelebten, menschlicheren Sexualität“ erlaubt sein ein Kondom zu benutzen, um die HIV-Ansteckungsgefahr zu verringern. Dies könne helfen ein Bewusstsein zu entwickeln, „dass nicht alles gestattet ist und man nicht alles tun kann, was man will“ (aus n-tv). Hat Ratzinger wirklich „männliche Prostituierte“ gesagt? Wird die HIV-Erkrankung also wieder „nur“ als „Schwulen-Seuche“ eingeordnet? Der Vatikan beeilt sich, Erklärungen nachzuschieben, dass das alles nicht so gemeint sei, sondern generell auch für „hetero- und transsexuelle Prostituierte“ gelte, so Vatikansprechener Lombardi. Immerhin macht sich der FAZ-Redakteur Christian Geyer viele kluge Gedanken über den Zusammenhang dieser Papstäußerung mit dem Verhältnis der kath Kirche zur Homosexualität – die kurz gefasst in purer Homophobie besteht. (Spannend sind die in dem Artikel referierten Äußerungen von David Berger über den „schwulen“ Aspekt der alten Tridentiner Liturgie! Das nur nebenbei.) Nicht nur in dieser Hinsicht gibt das Papstwort Rätsel auf. Handelt es sich wirklich um eine „katholische Wende“ oder doch nur um einen kleinen Spalt einer Türöffnung aufgrund römischer Kasuistik und Sophistik? Letzteres scheint mir der Fall zu sein. Denn an der Grundaussage katholischer Lehre, dass der Gebrauch empfängnisverhütender Maßnahmen moralisch nicht erlaubt sei, hat sich eben nichts, aber auch gar nicht geändert. Die neuesten „Lesehilfen“ des Vatikan wollen vielmehr die Kontinuität der Papstäußerung zur bisherigen Lehre der Kirche deutlich machen. Ein wenig Annäherung an die Wirklichkeit mag in den Ratzinger-Worten enthalten sein, aber was für eine verquere! Nun, ein Kleriker, zumal ein Papst, muss allein aufgrund seiner jahrelangen Erziehung und dogmatischen „Formung“ als erheblich milieugeschädigt gelten. Was sonst?
Sexualität kommt in der katholischen Lehre eigentlich gar nicht vor. Die „heilige“ Maria ist „Mutter Gottes“ und jungfräulich, also zwar nicht ganz geschlechtslos, aber weiblich doch nur in der Form verhinderter Sexualität. Jesus, der Gottessohn, ist es mindestens ebenso, zwar ein Mann, aber doch jenseits der Geschlechterrolle, also auch mit verhinderter oder nicht vorhandener Sexualität. Biblische Zeugnisse über Jesu Nähe zu Frauen und seine „Liebe“ zu Maria Magdalena oder den Jünger Johannes (ja, was denn nun?) werden konsequent im Sinne rein platonischer Liebe, also Enthaltsamkeit, weg erklärt und entschärft. Irgend woher muss die lange kirchlich-dogmatische Tradition der Ehelosigkeit der Priester, also der moraltheologischen „reinen“ sexuellen Enthaltsamkeit, ja herkommen, ebenso die Wertschätzung der dogmatisch asexuellen Mönche und Nonnen. Das gilt natürlich nur theoretisch, denn praktisch verbirgt sich hier nur eine abgrundtiefe Doppelmoral, die für die katholische Lehre und Kirche durchgängig kennzeichnend ist – erneut sichtbar geworden in der jüngsten Aufdeckung der unerträglichen zahlreichen Missbrauchsfälle.
Aber so könnte man einwenden, was ist dann mit der katholischen Hochschätzung von Ehe und Familie, speziell der dogmatischen Verklärung der Ehe zum „Sakrament“? Denn dieses besteht nach römischer Auffassung je gerade darin, dass sich die vor Gott einigen Mann und Frau das Sakrament der Ehe gegenseitig „spenden“, ja dass erst im – nun ja, wie genant! – geschlechtlichen Vollzug dieses erst zur wirksamen Vollendung kommt. Platt formuliert: gab es keinen Geschlechtsverkehr, dann wurde die Ehe nie vollzogen und kann mit höchstem kirchenamtlichem Segen anulliert werden – oftmals geschehen und immer noch gängige, zumindest theologisch anerkannte Praxis in der katholischen Kirche. Zugespitzt gedacht kann demnach ein reger Gebrauch des Kondoms bei Eheleuten deren Ehe nichtig machen, wenn es nie zum „Vollzug“ kommt mit entsprechender Empfängnis, denn sie allein, die Zeugung, ist der einzige Sinn und Zweck des ganzen sexuellen Unternehmens. Spaß dabei hindert nur den höheren Zweck, ist demnach ganz gewiss vom Teufel.
Das zum dogmatischen Hintergrund. Und nun diese neuen Äußerungen zum Kondom! Nun ja, der Papst kommt an der Realität nicht ganz vorbei, wie Christian Geyer heute aufklärt: Für die aufgebrachten Traditionalisten liefert Benedikt an anderer Stelle des Buches den großen, das Verhältnis von Säkularität und Religion betreffenden Zusammenhang der leidigen Gummi-Frage nach: „Das Christliche darf nicht zu einer archaischen Schicht werden, die ich irgendwie festhalte und gewissermaßen neben der Modernität lebe. Es ist etwas seltsam Lebendiges, etwas Modernes, das meine gesamte Modernität durchformt und gestaltet – und sie insofern regelrecht umarmt.“ Nicht ganz archaisch, aber doch immer noch reichlich archaisch genug – und bigott! Dazu passen die Aussagen zur Homosexualität – alles wie gehabt: So ist zum Beispiel Homosexualität mit dem Priesterberuf unvereinbar, sagt der Papst mit aller Autorität. „Denn dann hat ja auch der Zölibat als Verzicht keinen Sinn. Es wäre eine große Gefahr, wenn der Zölibat sozusagen zum Anlass würde, Leute, die ohnehin nicht heiraten mögen, ins Priestertum hineinzuführen, weil letztlich auch deren Stellung zu Mann und Frau irgendwie verändert, irritiert ist, auf jeden Fall nicht in Schöpfungsrichtung steht“. Alles altbekannt, vormodern, verquer. Man fasst es nicht. In der Realität angekommen? In welcher? In der des Vatikan?
Dazu passt da andere Thema Ratzingers, das in den News-Schatten der „Gummi-Frage“ geriet: sein Bedauern über die Aufhebung der Exkommunikation Bischof Richard Williamson am 24.09.2009 – ja, so lange ist das schon her. Wenn er gewusst hätte, dass der Bischof die Existenz der Gaskammern der Nazis leugnet, hätte er ihn nicht teilrehabilitiert, wird der Papst zitiert. Wenn er es gewusst hätte! Es war ja auch völlig unbekannt, was Williamson 2008 in einem Interview mit dem schwedischen Fernsehen rausposaunt hatte – das ging durch die gesamte Presse. Niedlich fast und völlig unbedarft klingt es da, wenn nun Ratzinger weiter zitiert wird: Der Papst hätte diese Entscheidung nicht getroffen, schreibt er bei Seewald, wenn er Kenntnis davon gehabt hätte, dass Williamson die Existenz von Gaskammern in nationalsozialistischen Lagern leugne. „Dann hätte zunächst der Fall Williamson abgetrennt werden müssen“, wurde der Papst am Montag zitiert: „Aber leider hat niemand bei uns im Internet nachgeschaut und wahrgenommen, um wen es sich hier handelt.“ (FAZ vom 23.11.2010 S. 5). Na so was, sie haben im Vatikan nicht im Internet nachgeschaut, das ist es also! Nicht zu fassen. Liest dort keiner Zeitung oder hört Radionachrichten? Gibt es dazu keine Akten und Referenten, die darüber ein Dossier erstellt haben? Entscheidet der Papst einfach nach Gusto? Wie dumm ist Ratzinger wirklich – oder für wie dumm will er das staunende Publikum verkaufen?
Zumindest weit abgehoben von der Wirklichkeit lebt dieser Papst in seinem mittelalterlichen Gepränge im Vatikan, einem Monarchen aus vergangenen Jahrhunderten gleich. Dieses feudale Kirchenoberhaupt weiß entweder gar nicht, was es sagt, oder es will die „Schäfchen“, also die Menschen unserer Zeit, ganz harmlos und dumm halten. Das hätte allerdings auch eine lange katholische Tradition.