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Wildwest im Netz

Das Netz hat Suchtcharakter. Seine Sitten sind wildwest. Es bietet religiöse Surrogate. Es muss endlich zivilisiert werden. Sage nicht ich. Schreibt der Religionswissenschaftler und Blogger Michael Blume.

Kürzlich bin ich auf einen Artikel von Michael Blume (Religionswissenschaftler [hier wurde eine frühere Angabe korrigiert, siehe Kommentare unten] und prämierter Blogger bei SciLogs) aufmerksam geworden, den er in der Mai-Nummer der Herder Korrespondenz veröffentlicht hat. Der Titel lautet „Gott in Wilden Netzen. Religion im Brennpunkt des Web 2.0“ und ist online verfügbar. Dieser Artikel richtet sich weniger an die „Internet-Gemeinde“ als an die traditionellen katholischen Leser der Herder Korrespondenz. Weil Michael Blume auch im Netz präsent ist und sich als „Wissenschafts-Blogger“ bei SciLogs um die Vermittlung religionswissenschaftlicher Themen in der interessierten (Netz-) Öffentlichkeit bemüht, ist sein Herder-Artikel über das „Web 2.0“ bedeutsam, meine ich, für die Wahrnehmung von Religion im Netz aus katholisch-theologischer Sicht und insofern vielleicht von  allgemeinerem Interesse.

Nach einem Kurzüberblick über die vatikanischen Aktivitäten im Verhältnis zu Bloggern und zur „Blogosphäre“ gibt er eine Charakterisierung der Wirklichkeit im Netz:

Kommunikation im Netz findet meist ohne Stimme, Gesicht und Emotionen statt, oft mit anonymen Teilnehmern. Missverständnisse, Rüpeleien, ja Aggressivität schaukeln sich vor allem in den weitgehend unregulierten Welten der „Blogosphäre“, gewissermaßen der digitalen Pioniere, hoch. Hier überbieten sich vielerorts noch laute Männer mit extremen Ansichten – ausgewogene, differenziertere Stimmen werden gezielt abgeschreckt. So genannte „Basher“ mobben meist in Gruppen gegen Demokraten, Wissenschaftler, religiöse und ethnische Minderheiten, Kirchen und Frauen. Fundamentalistische und extremistische Gruppen nutzen das Netz, um auf sich aufmerksam zu machen, neue Mitglieder zu werben und zu radikalisieren. Anonyme „Stalker“ attackieren den Ruf ihrer Opfer. Und so genannte „Trolle“ versuchen Aufmerksamkeit zu erhaschen, indem sie Diskussionen oft unter verschiedenen Namen („Sockenpuppen“) gezielt stören und andere anpöbeln. Zwar setzen sich die konstruktiven Mehrheiten langsam kulturell durch und „zivilisieren“ immer weitere Bereiche des Netzes. Aber die Wildnis ist nie weit…

Daher also auch der Titel des Artikels. Die Beschreibung, dass „Kommunikation im Netz meist ohne Stimme, Gesicht und Emotionen“ statt findet, widerspricht allerdings den „Rüpeleien“ und der „Aggressivität“, die Blume unter den „digitalen Pionieren“ fest stellt. Und ob ein gedankliches Evolutionsmodell („konstruktive Mehrheiten“ setzen sich „langsam kulturell“ durch und „zivilisieren“ die „Wildnis“ des Netzes) für die Beschreibung der Wirklichkeiten im Netz zutreffend und hilfreich ist, wage ich zu bezweifeln. Schnell wird der „Lynchmob vor einer norddeutschen Polizeistation“ zum abschließenden Urteil über das Web 2.0: „Finsterer Wildwest, fürwahr.“ Ich erlebe es etwas anders. Die Netzwirklichkeit ist doch nichts anderes als Teil der allgemeinen Öffentlichkeit und spiegelt natürlich die ganze Breite menschlichen Verhaltens wider, mit angemessenem und unangemessenem, gutem und schlechtem, emotionalem und rationalem Benehmen, Ton und Diskussionsstil. Dem Netz in besonderer Weise eine „Wildwest-Mentalität“ zu attestieren, halte ich für wenig überzeugend. Es kommt immer darauf an, ‚wo man sich herum treibt‘, sprich welche Erfahrungen man in welchen Teilen der Netzöffentlichkeit macht. Dass es Boshaftes gibt, dass manches Unbedachte einen „Klick“ zu schnell geäußert wird, mag richtig sein, doch kann man desselbe auch bei politischen Veranstaltungen und Podiumsdiskussionen IRL erleben. Für vieles im Netz gibt es halt neue Anglizismen („shitstorm“), aber dem Verhalten nach wenig Neues. Kurz, ich wehre mich allenthalben gegen eine einseitige Mystifikation des Netzes – für die einen unzivilisierter Wildwest (unterstellt: rechtsfreier Raum), für die anderen das Heilsversprechen wahrer Menschlichkeit. Das Netz ist aber weder ein solcher „rechtsfreier Raum“ (siehe Konrad Lischka) noch die kommunikative Erfüllung einer Paradiesverheißung. Dies Letztere wäre dann die „quasireligiöse“ Funktion des Netzes, über die neulich diskutiert wurde.

Genau darauf kommt nun auch Blume zu sprechen, wenn er die Attraktivität des Web 2.0 als Ersatzdroge kennzeichnet: „Die virtuelle Existenz euphorisiert und legt zugleich tiefste Bedürfnisse bloß“. Aber gegenüber echter Religion ist es eben nur eine Verirrung, ein verführerisches Surrogat, wenn sich nämlich zeigt,

… dass intensive Facebook-Nutzende sich immer wieder in buchstäblich rauschhaften „Flow-Erfahrungen“ verlieren. – Das viel diskutierte „Burn-Out“ ist maßgeblich auch ein Ergebnis der sozialen Medien … Der Schwarm verspricht alles, doch verzeiht er kaum Schwächen … Manch vermeintlich cooler Cowboy des Netzes erweist sich als einsam Suchender. Seelsorge für „Netizens“ würde dringend benötigt. Die meisten engagierten Bloggerinnen und Blogger hungern geradezu nach Wertschätzung für ihren oft intensiven und kreativen Einsatz, nach echter Begegnung mit Gleichgesinnten, nach gemeinsamen Essen, gemeinsamer Zeit. Wird ihnen das geboten, reisen sie auch bis nach Rom.

Auch hieran mag manches zutreffend beobachtet sein, und nicht nur aus der Perspektive des katholischen Seelsorgers. Problematisch ist vielmehr, wenn diese extremen Randphänomene („Sucht“) als typische Kennzeichnungen des Netzes, der ‚Netizens‘ und der social media insgesamt heran gezogen werden. Die meisten jungen Leute benutzen Facebook einfach so, um mit ihren Freunden in Kontakt zu sein, wie es heute eben üblich ist. Da sind geheimnisvolle „flow-Erfahrungen“ doch weit entfernt. Aber Blume kommt es eigentlich auch auf etwas anderes an. Diesem üblen Missbrauch des Internets setzt er das Netz als neues Missionsfeld entgegen.

Zu den Überraschungen gehört, dass gerade auch religionsbezogene Themen in den Blogosphären überaus stark nachgefragt und diskutiert werden. Auch Bloggende ohne spezifische Fachkenntnisse in Theologien, Philosophien oder Religionswissenschaft äußern sich immer wieder zu religiösen Fragen – aus persönlichem Antrieb oder auch auf der Suche nach höheren Zugriffs- und Kommentarzahlen. Sie verweisen auf einen neuen Erfahrungszusammenhang von Wissenschaft und Religion…. Schon kursiert unter Bloggenden das Bonmot: „Das Nervige an den neuen Atheisten ist, dass sie ständig nur über Gott reden wollen.“

Die „überaus starke Nachfrage nach religionsbezogenen Themen“ ruft geradezu nach einer höheren kulturellen Ebene. Denn „das Niveau populärer Online-Religionskritik lässt zu wünschen übrig.“ Da sind „Religionsbasher“ am Werk. Hier sieht Blume nun Inhalte gefragt, die das leere, niveaulose Gerede über den „vermeintlichen Gotteswahn“ endlich in eine „differenzierte Diskussion“ überführt. Blume geißelt „das Niveau populärer Online-Religionskritik in gruppendynamischem „Bashing““ und den „neuen Atheismus“ der „emotionalen Reduktionisten“, welche „die katholische Kirche auf Missbrauchskandale reduzierten“. Hier wird Blumes apologetisches Interesse sichtbar: Es möchte der (katholischen) Theologie und Kirchlichkeit einen neuen Aufgabenraum im Netz zuweisen. Das Netz gerät so zum kirchlichen Missionsfeld, einerseits im Bereich „eingeforderter Wissenschaftlichkeit“, um eine neue „Debattenkultur“ der „Glaubensüberzeugungen“ in Auseinandersetzungen mit „erkenntnistheoretischen Debatten“ zu etablieren, andererseits um durch konkrete Begegnungen den „Wissenssuchenden in der Netzwelt“ menschliche Wärme und eine geistliche Heimat zu bieten (siehe der von Blume beschworene „Geist von Deidesheim“). Man merkt sehr deutlich, wie hier aus dem kirchlichen Bereich versucht wird, stärker im Internet Fuß zu fassen und zugleich das vermeintlich entdeckte heimliche Streben der ‚Nerds‘ nach Wärme und Geborgenheit zur missionarischen Gelegenheit zu nutzen. Dies ist natürlich aus katholisch – kirchlicher Sicht durchaus legitim. Man sollte es dann aber auch so deutlich sagen und benennen – und sich nicht hinter einem objektivierenden wissenschaftlichen Anspruch als „Religionswissenschaftler“ verstecken.

Tatsächlich geht es Blume letztlich um eine neue Versöhnung des kirchlich tradierten Glaubens mit der modernen Wissenschaft. Eben darum widmet er sich auch in seinem Arbeitsbereich den Themen „Religion und Hirnforschung“ und „Evolutionsbiologie und Religiosität“. Am Ende seines Aufsatzes skizziert er knapp einen weiteren Themenschwerpunkt, die demografische Wirksamkeit der Religion. Hier zieht er nun eine recht kurze und überraschende Verbindungslinie von entdeckten statistischen Ergebnissen der Evolutionsbiologie zu einer triumphierenden Rechtfertigung religiösen Glaubens:

Längst liegen unzählige Studien vor, die übereinstimmend aufzeigen, dass
innerhalb von Gesellschaften religiös aktive Menschen durchschnittlich stabilere und größere Familien aufweisen als ihre nichtreligiösen Nachbarn – selbst nach Kontrolle von Faktoren wie Bildung, Einkommen und Wohnort… Obwohl atheistische Lehren seit der griechischen und indischen Antike belegt sind und politische Bewegungen  bisweilen versucht haben, sich anstelle gewachsener Religionen zu etablieren, hat sich nach bisherigem Kenntnisstand noch jede menschliche Population demografisch aufgelöst, die nicht auch sinn- und gemeinschaftsbildende Mythologien und Rituale samt familienfördernder Institutionen ausgeprägt hätte. Soweit, so trocken-evolutionär – schon Charles Darwin selbst (der immerhin Theologie studiert hatte) hatte ja angenommen, dass religiöse Überzeugungen an überempirische Wesenheiten der Stärkung von Kooperation und Vertrauen in Gemeinschaften evolutionär erfolgreich (adaptiv) diente – der Mensch zu „Homo religiosus“ wurde. Für „Religionsbasher“ sind solche evolutionär eigentlich nicht besonders überraschenden Befunde jedoch eine harte und immer wieder neu aufregende Nuss.

Fazit: Religion ist arterhaltend. Atheisten sterben aus. Das kann einem nun reichlich abstrus erscheinen. Es ist aber todernst gemeint, auf der Webseite von Michael Blume finden sich entsprechende Literaturhinweise. Man darf sich allerdings jetzt schon fragen, wie denn in den statistischen Erhebungen über die höhere Fertilität von „Religiösen“ die Kategorie „religiös“ definiert ist und ob sie nicht durch die Kategorie „traditionalistisch“ oder „fundamentalistisch“ substituiert werden kann. Auch der Hinweis auf Darwin ist in diesem Zusammenhang (Vereinnahmung als „Theologe“) ein wenig erschlichen, denn das Theologiestudium musste Darwin auf Druck des Vaters beginnen – und bei der erstbesten Gelegenheit entfloh er auf die „Beagle“… Aber sei dem, wie es sei, der Hinweis auf Darwin bedeutet schlicht gar nichts. Wieweit Blumes merkwürdige Aufnahme der „Evolutionstheorie“ im Sinne einer Bestätigung des „survival of the fittest“ als ’survival of the religious‘ überzeugt, mag jeder selber prüfen und entscheiden. Ich jedenfalls halte Blumes Versuch einer apologetischen Vereinnahmung des Internets (Web 2.0) und einer evolutionsbiologischen Vermittlung von kirchlicher Religiosität und ‚gottloser‘ Wissenschaft für wenig einleuchtend. Auch ein klangvoller Schlusssatz macht es nicht besser:

Das Internet wird nicht das Paradies auf Erden bringen. Vielmehr bringt es Großes und Soziales, wie aber auch Aggressives und Niederträchtiges in uns Menschen hervor. Es schmiegt sich an unsere tiefsten, emotionalen Bedürfnisse und konfrontiert uns zugleich mit Orientierungs-, Sinn- und schließlich Wahrheitsfragen.

Mag ja sein. Aber auf dem Weg Michael Blumes gehts aus meiner Sicht – nicht.

4 Antworten auf „Wildwest im Netz“

Mmh, also von Juden oder Muslimen war hier nirgendwo die Rede. Meine „Zuschreibung“ des Katholizismus hat auch nichts mit der Schnelligkeit im Internet zu tun, immerhin beziehe ich mich auf einen gedruckten und zusätzlich online verfügbaren Artikel. Persönliche Kenntnis gehört auch nicht zu den Voraussetzungen dafür, wie man einen Autor verstehen soll. Sonst dürften Sie sich zu z.B. Darwin schon lange nicht mehr äußern 😉

Sie machen es sich mit Ihrer Internetkritik etwas zu einfach, sie ist zu oberflächlich. Dem Internet fern Stehende können sich dadurch in all ihren Vorurteilen bestätigt sehen, und das ist das Gegenteil von „kritischer“ Würdigung. Ihr Hinweis, dass Sie sich gerne im Netz bewegen, ist eigentlich kein Gegenargument. Wer die katholische Kirche nicht auf Missbrauchsfälle reduziert sehen möchte, sollte auch das Internet, speziell die social media, nicht auf extreme Randerscheinungen verkürzen.

@Reini

Grämen Sie sich bitte nicht. Ich bin ebenso auch schon zum Juden oder Muslim erklärt worden. Das geht, gerade im Internet, alles ganz schnell… 😉

Gerne schaue ich mich in Ihrem Blog noch etwas um und wünsche Ihnen alles Gute, viel Freude und Erfolg!

Die Angabe „katholisch“ und „Theologe“ korrigiere ich gerne. Dass Sie in kirchlichen Diensten stehen, habe ich nirgendwo behauptet. Dass Sie allerdings der katholischen Kirche nahe stehen, wird man wohl aus Ihren Engagements und Veröffentlichungen heraus lesen dürfen.

Vielen Dank für Ihre „Rezension“! Auch kritische Rückmeldungen sind willkommene Rückmeldungen.

Leider stimmen aber schon Ihre Grundannahmen nicht. So bin ich weder katholisch noch Theologe, stehe nicht in kirchlichen Diensten und fürchte auch das Internet nicht, sondern bringe mich dort gerne (konstruktiv, aber eben auch nicht unkritisch) ein. Sie haben damit m.E. eindrucksvoll demonstriert, wie Wahrnehmung und Realität auseinander gehen, wenn sich Menschen nur über Texte begegnen… 😉

Beste Grüße, Ihnen alles Gute!

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