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Rezension von Friedrich Wilhelm Graf, Kirchendämmerung. Wie die Kirchen unser Vertrauen verspielen, München 2011
„Man kann den Theologen Friedrich Wilhelm Graf zu Recht als einer der wichtigsten und bedeutendsten protestantischen Theologen deutscher Sprache der Gegenwart bezeichnen. Neben wichtigen und wegweisenden theologischen Fachbüchern hat Graf insbesondere in den vergangenen Jahren immer wieder sich in großen deutschen Zeitungen eingemischt mit zum Teil sehr kritischen Artikeln und Interviews über den Zustand der Kirchen in unserem Land.“ schreibt Winfried Stanzick in seiner Rezension des Buches von F.W. Graf. Dem ist unbedingt zuzustimmen, wenn er fortfährt:
„Beide große Kirchen, die evangelische und die katholische, sind von einer großen Krise betroffen. Nur auf den ersten Blick sieht es so aus, als hänge die beispiellose Austrittswelle, von der man von Kirchenseite im Übrigen sehr wenig hört, hauptsächlich mit den zahlreichen Missbrauchsskandalen zusammen, die im Jahr 2010 ruchbar wurden und von der katholischen Kirche nicht wirklich aufgearbeitet worden sind. Obwohl es in der evangelischen Kirche nur wenige solcher Fälle gab, ist auch hier die Austrittsbereitschaft hoch und die Unzufriedenheit vieler Noch- Mitglieder groß. Diese Unzufriedenheit vieler Mitglieder wird noch bei weitem übertroffen von der Enttäuschung, dem Frust, ja in vielen Fällen der Verbitterung Tausender von Pfarrerinnen und Pfarrern, die, mit immer mehr Verwaltungsarbeit zugeschüttet, vor Ort die Mängel der Kirchenverwaltungen und ihrem auch im evangelischen Bereich besorgniserregend zunehmenden Zentralismus ausbaden müssen. Die Zahl ausgebrannter Pfarrer, die an ihrer Kirche zweifeln und verzweifeln ist ein gut gehütetes Geheimnis und Tabu.“
Ich kann mich den Rezensionen von Winfried Stanzick und HealingCross (wer immer sich dahinter verbirgt) bei Amazon überwiegend zustimmend anschließen, möchte aber einige Aspekte ergänzen und das Buch darum auch – im Unterschied zu HealingCross – theologisch sehr positiv beurteilen: Friedrich Wilhelm Graf schreibt sprachlich sehr pointiert und theologisch substanziell herausfordernd.
Zunächst eine eher formale Beobachtung. Man merkt während der Lektüre sehr bald, dass Graf hier ursprünglich sehr unterschiedliche, zum Teil disparate Texte unter dem gemeinsamen Thema der „sieben Untugenden der Kirchen“ zusammen bindet. Das wird manchmal schwierig, wenn die Texte mehr und anderes intendieren. So entwickelt er im sechsten Kapitel auf den Seiten 122 – 146 die Grundlinien einer eigenen Ekklesiologie, die sich kritisch gegenüber den herkömmlichen Entwürfen einer harmonistischen Theologie der „Gemeinschaftskirche“ in Stellung bringt – das vermutet man kaum unter der Überschrift „Zukunftsverweigerung“. Graf streitet für ein Konzept der „Volkskirche“, die sich konfliktfähig mitten in der pluralistisch-liberalen Gesellschaftswirklichkeit verortet: „Wer individuelle Freiheit, eine letzte Unverfügbarkeit, Gottunmittelbarkeit des Einzelnen für theologisch legitim hält, muss auch Konflikte, eine Konkurrenz theologischer Weltdeutungen und einen Pluralismus von Frömmigkeitsstilen als konstitutive Elemente der Kirche anerkennen.“ Gegen den „Gemeinschaftsdruck“ einer erträumten homogenen Gesinnungs-Kirche setzt Graf entschieden auf den streitbaren Einzelnen, der gut protestantisch gegenüber Gott nur seinem Gewissen verantwortlich ist. Kirche ist dann der Ereignisraum, in dem unterschiedliche Glaubens- und Lebensentwürfe ermöglicht werden, begrenzt und bestimmt nur durch Wortverkündigung und Sakramentsangebot („recte docetur et recte administrantur sacramenta“ CA VII).
Ein solcher theologischer Entwurf würde sich nach Graf auf eine Tradition protestantischer Theologie stützen, die in den vergangenen Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts in Vergessenheit geraten ist. Er nennt insbesondere die Namen von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher und Georg Wilhelm Friedrich Hegel, deren Bedeutung für die Theologie der Gegenwart erst neu zu entdecken wäre. Hier liegt aus meiner Sicht eine Menge Potential für eine aktualisierte liberale Theologie der Gegenwart. Besonders Schleiermacher, von der „Dialektischen Theologie“ als Urvater des modernen Sündenfalls verteufelt, fristet in der Theologie der vergangenen 50 Jahre ein vernachlässigtes Schattendasein, dabei hätte dieser große Theologe des beginnenden 19. Jahrhunderts mit seinem Theologieentwurf jenseits von Rationalismus und Moralismus einiges Hilfreiche zu sagen: Sein Begriff des „Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit“ wäre gewinnbringend in die Probleme einer globalisierten Welt der totalen Vernetzungen zu übersetzen und fruchtbar zu machen.
Schließlich gebührt Graf das Verdienst, sehr zu Recht und gerne auch polemisch auf die Bildungsvergessenheit, ich würde sogar hinzufügen: auf die Attitüde der Bildungsfeindschaft weiter Kreise der kirchlichen Funktionäre (Pfarrerschaft und Leitungsorgane) in den protestantischen Kirchentümern hinzuweisen. Hier droht ein ganz eigener „Traditionsabbruch“, der auf Bauch und Wohlgefühl setzt, aber mit der eigentümlichen Strenge einer „Kirche des Wortes und der Schrift“ wenig zu tun hat. „Kulturprotestantismus“ ist hier in Deutschland (ganz anders als in den USA) zur Negativfolie einer Christlichkeit geworden, die selber ganz gefühlsmäßig „authentisch“ und natürlich „nachhaltig“ sein möchte und nicht merkt, wie sie dabei dem Zeitgeist nur umso rascher und unkritischer in die Arme fällt. Dass Protestantismus und Kultur ein enges Beziehungsgeflecht darstellen können, das fruchtbar wird für freiheitsweisende Deutungsmodelle der Gegenwart, hat „Kirche“ zum eigenen Schaden vergessen. Dieses aber nachdrücklich einzufordern ist das gute „Amt“ eines akademischen Theologen!
Die Lektüre dieses Buches ist erfrischend und äußerst anregend. Friedrich Wilhelm Graf schreibt sprachlich sehr pointiert und theologisch substanziell herausfordernd. Ein sehr gutes Büchlein!