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Komplexität und Populismus

Die Welt ist kompliziert geworden. Komplexe Zusammenhänge drohen einen Staat handlungsunfähig zu machen. Die Stunde der Populisten? Besser die Zeit der Besonnenen, die den Willen haben, über Kompliziertes aufzuklären.

Der „Wutbürger“ hat wieder zugeschlagen, kann man lesen. Diesmal wars in München. Ob allerdings eine Zustimmung von 18 % der Wahlberechtigten einen „Volksentscheid“ legitimieren, wäre eine weitere politische (nicht juristische) Frage. Offenbar hat sich hier nur wieder bestätigt, was auch früher schon, besonders in der hektischen Diskussion über „Stuttgart 21“ zu lesen und zu hören war: Die Zusammenhänge von strukturpolitischen, industriegesellschaftlichen, soziokulturellen und rechtsstaatlichen Faktoren und Bewertungen seien derart komplex (geworden), dass der Normalbürger sie nicht mehr durchschaue und mit seinem „Nein“ eine einfache Lösung wähle: „Mit mir nicht.“ Dieselbe Begründung undurchschaubarer Komplexität erfahren wir beim Thema Energie, speziell Energiewende, beim Thema Euro-Stabilität, Finanzwirtschaft, Weltwirtschaft. Alles eigentlich viel zu komplex, um es zu verstehen, viel zu undurchsichtig, als dass man nicht „gewissen“ Personen die finstersten Interessen („Gier“) unterstellen müsste, von viel zu vielen unschönen „Kollaterlalschäden“ begleitet, darum eigentlich auch einfach schlecht. Negativ. Opt-out-Position. Euro-Hilfen? „Nicht mit mir.“ Hochspannungsleitungen? „Nicht bei mir.“ Stromspeicherbecken? „Nicht im Schwarzwald.“ Börsengeschäfte? „Will ich nicht.“ Welthandel? „Von hier kaufen.“ Und zur Wirtschaftskrise ist dann eine Äußerung wie diese typisch: “ Ich werde den Eindruck nicht los, dass man die globalen Märkte sowieso nicht verstehen kann und der Politik nichts anderes übrig bleibt, in ihren Entscheidungen dem allgemeinen Trend zu folgen!“ (+Peter Winkler)

Niklas Luhmann hat in seiner Systemtheorie die oft zitierte Definition von „Sinn“ als eine Form der „Komplexitätsreduktion“ geliefert. Das klingt auf den ersten Blick frappierend einfach und überzeugend. Wenn komplexe Zusammenhänge im Zusammenwirken all der unterschiedlichen Systeme auf verschiedenen strukturellen Ebenen nicht mehr überschaut werden können, bedarf es vereinfachender Handlungsregeln oder Erkenntnislinien, die für den Einzelnen wie Pfade im Dschungel wirken. Der „Sinn“ eines Systems von gesellschaftlichen Handlungen ist dann gewissermaßen das vereinfachte „Ziel“, auf das hin alles zu laufen sollte. Das einfache Ergebnis „erklärt“ dann die unübersichtliche Komplexität. Nach Luhmann strukturieren sich komplexe Systeme wie Gesellschaften freilich nach inhärenten Regeln selber („selbstreferentiell“), die zu entdecken wiederum eine äußerste kognitive Anstrengung der „Konstruktion“ erfordert. Soweit die Systemtheorie, und so gut auch als heuristisches Konzept. In der Praxis politischer Wirklichkeit läuft die „Komplexitätsreduktion“ freilich fast immer darauf hinaus, dass den komplexen Systemen ihr „Sinn“ einfach von außen vorgegeben wird (statt systemtheoretisch sauber im Zusammenspiel von System und Umwelt eruiert zu werden). Die politisch wirksame Komplexitätsreduktion ist also de facto die möglichst einfache Erklärung undurchschaubarer Zusammenhänge nach den ebenso einfachen Kriterien „wem nützt es“ und „wer steckt dahinter“. Das mag ja auch durchaus zu fragen richtig sein, aber als alleiniger Erklärungsgrund der Funktionsweise komplexer gesellschaftlicher Systeme ist es eine unzureichende Reduktion. Denn auf das Erklären dessen, wie bestimmte Zusammenhänge eigentlich ‚in Wirklichkeit‘ funktionieren, kommt es dabei überhaupt nicht mehr an. „Das will niemand wissen“, heißt es dann. Es komme also nur darauf an, was im „Endeffekt“ heraus komme, woraus etwas hinaus läuft. So zu argumentieren vermeidet die sachliche Erklärung und Auseinandersetzung zugunsten einer von anderswoher gewonnenen Sinn- oder Zielvorgabe. Es sind eben die „Finanzhaie“, die „Zecken“, oder die Larifari-Südländer, die unser Geld wollen, oder die gierigen Stromkonzerne, die Deutschland in eine Atomwüste verwandeln wollen. Es sind vor allen Dingen immer die anderen (Ausländer, Moslems, Bosse usw.), die „schuld“ sind. Es ist dies die typisch populistische Vorgehensweise. Populismus ist die erfolgreichste Form von Komplexitätsreduktion. Dies ist für uns Bürger einer komplexen globalen und vernetzten Industriegesellschaft verheerend.

Die populistischen Vereinfachungen und ideologischen Sinnzuweisungen sind gang und gäbe geworden. Sie finden sich beim Reden über Rentenpolitik ebenso wie über Energie- oder Verkehrspolitik. Sie finden sich in Dörfern, die keine Windräder oder Funkmasten wollen, ebenso wie in Metropolen, die ihr Kiez unangetastet wissen wollen. Die Vereinfacher, politisch die Populisten, und die Neinsager haben Hochkonjuktur. Dabei verkennen die meisten, wie sehr ihre eigene private Lebensweise, die sie verteidigen und keinesfalls missen wollen, auf dem Zusammenwirken all dessen beruht, wogegen sie sich im konkreten Einzelfall so vehement wehren. Vermutlich wollen auch die 18 % Münchener Wahlbürger, die gegen die dritte Startbahn sind, gerne und bequem von München aus in den Urlaub fliegen. Beispielsweise. Andere wollen nicht wahr haben, dass Deutschland bis auf weiteres nur als Industrieland mit Wachstumsbranchen eine Zukunft hat, die den bisherigen Lebensstandard sichern kann.

Statt populistischer Vereinfachungen – und Populismus ist kein Reservat extremer Parteien – ist Aufklärung nötig, Erklärung der komplexen Zusammenhänge, die unsere Lebenswelt kennzeichnen. Es ist der Verweigerung zu widerstehen, sich auf komplexe Erklärungsmodelle, vielfältige Zusammenhänge, Interessengegensätze und konkrete Zielkonflikte einzulassen. Genau das versäumen Politiker seit längerem, da fehlt oft der Wille, komplizierte Dinge auch komplex zu behandeln, Alternativen zu erklären, Interessen zu verdeutlichen. Es ist ja nicht so, dass man die Finanzwirtschaft oder die Weltwirtschaft nicht „erklären“ könnte. Da hilft manchmal eine gute Portion Psychologie. Es mag da unterschiedliche Theorien geben, verschiedenen Erlärungsmodelle, vor allem auch gegensätzliche Interessen, aber auch dies alles ist doch darstellbar. „Wer will das denn wissen?“ „Wir werden doch nur besch…“. Ok., das ist die einfachste Form der Totalverweigerung, den eigenen Verstand zu gebrauchen. Es ist aber von den politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich Verantwortlichen einzufordern, die komplexe Lebenswelt, die komplizierten Zusammenhänge zum Beispiel des sogenannten „Generationenvertrages“ in der Rentenversicherung, die Grundlagen der Energieversorgung, die Funktionsweise des Euro, der europäischen Zentralbank und der sehr verschiedenen Länderinteressen hinter der jeweiligen Europapolitik zu verdeutlichen. Das kann man lernen, das kann man machen, das muss man erwarten, dazu sollten auch die öffentlich-rechtlichen Medien dienen, statt in der xten Talkshow immer dieselben Phrasen zu produzieren.

In einer sich rasant wandelnden Welt, die für uns Heutige schon völlig von der Welt unserer Eltern und Großeltern verschieden ist, und die als Welt unserer Kinder und Enkel noch einmal unvorstellbar verschieden von der unsrigen sein wird, ist Komplexitätsreduktion in der Tat erforderlich. Aber nicht als ideologischer Populismus, der immer einen benennbaren Feind braucht (der Jude, der Islamist, der Börsenhai), sondern als Aufklärung im besten Sinne. Politik und Ökonomie gehören schon als Pflichtfächer in die Schule und als politische Praxis in den alltäglichen Bürgerdialog. Verantwortungsträger haben da der Öffentlichkeit gegenüber eine Bringschuld, aber die Bürger haben auch die Holschuld, sich mit komplizierten Sachverhalten auseinander zu setzen. Die sachorientierte Erklärung, gerade auch die unterschiedlich argumentierende Erklärung, die an das eigenen Urteilsvermögen appelliert, ist für uns heute lebensnotwendiger als je. Unsere Lebenswelt ist bis in die kleinsten Funktionszusammenhänge zunehmend komplexer geworden – und wird es bleiben. Die Komplexität ist zwar „ungeheuer“, aber sie ist kein Ungeheuer. Der mitbestimmende Bürger kann nur der aufgeklärte, mitdenkende Bürger sein, der zum eigenen Urteil befähigt ist. Dies ist der Sinn politischer Diskussion. Reduktion von Komplexität ist nötig, aber eine solche, die eigenes Denken und Urteilen ermöglicht – und nicht populistisch verhindert.

UPDATE: Kleine kontroverse Diskussion dazu bei Google+.

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