Kategorien
Aufklärung Bildung Bush Politik Sarrazin

Komplexitätsreduktion? – eine Erläuterung

Der  Thread bei Google+ zum meinem Beitrag „Komplexität und Populismus“  hier im Blog ist zwar etwas daneben gegangen, bringt mich aber dazu, eine Erläuterung und Präzisierung nachzuliefern.

Dass die Lebensbedingungen in unserer heutigen Welt zunehmend „kompliziert“ geworden sind, ist trivial. Dass Menschen ihre Verhältnisse und Umwelt lieber „einfach“ und übersichtlich haben wollen, ist ebenso trivial. Dass man sich dann gerne auf Kompliziertes einen eigenen Reim macht, welcher erworbene Verstehensschemata (genannt Vorurteile) quasi als Folie oder Raster über das zu erklärende Phänomen legt, ist auch noch ziemlich trivial. So verfahren wir übrigens alle irgendwann. Beispiel: Ist jemand der Überzeugung, Europa stehe in einem Abwehrkampf gegen den Islam, dann werden für denjenigen zahlreiche Einzelphänomene „auf einmal“ leicht erklärbar und verständlich. Die Beschreibung dieser Einzelgegebenheiten kann dann auch äußerst genau erfasst und mit Daten untermauert werden. Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ ist ein Paradebeispiel für ein solches vorturteilsbehaftetes Erklären bestimmter politischer Phänomene in Deutschland. Sein Buch war ein Renner, weil es Sarrazin geschafft hat, etwas Komplexes durch ein sehr einfaches vorgegebenes (!) Erklärungsschema wiederum „einfach“ zu machen: Ein Fall von nicht sachgerechter Komplexitätsreduktion also. [Bitte keine Diskussion über Sarrazin, dient hier nur als strukturelles Beispiel.] Populismus habe ich das genannt. Auch dieser Sachverhalt ist noch ziemlich trivial.

Bezogen auf komplexe Zusammenhänge ist zur eigenen Urteilsfindung und erst recht für die Evaluierung von Handlungsoptionen stets eine Vereinfachung nötig. Man konzentriert sich „auf das Wesentliche“, sieht von „Randbedingungen“ ab, definiert klare, einfache Ziele und bekommt dann eine leicht verständliche „Situationsanalyse“ mit einer begrenzten, also übersichtlichen Zahl von Handlungs- oder Verhaltensoptionen. Die meisten unserer Entscheidungen im Alltag, der ja ebenfalls ziemlich komplex ist, funktionieren so, und zwar gut. Der Vorteil ist, dass wir uns bei dieser Selbstbeschränkung „auf das Wesentliche“ meist schnell orientieren und entscheiden können. Fehleinschätzungen haben wir dann auch sehr bald selber auszubaden. Auch alles noch überwiegend trivial.

Politik aber funktioniert anders, – sollte sie wenigstens. Da können Randbedingungen eben nicht „einfach“ ausgeblendet werden, da ist oft schon die Feststellung der Ausgangsbedingungen problematisch, erst recht die Prüfung der Auswirkungen bei vorgestellten Handlungsweisen und die Folgenabschätzung bei unterschiedlichen Handlungsoptionen. Die Ziele sind vielleicht noch vergleichsweise einfach zu benennen. Jedes der im vorigen Beitrag als Beispiele genannten Themen ist so komplex, dass schon die Darstellung des Sachverhalts keineswegs mehr trivial ist. Zudem ist jedem bekannt, dass schon kleine Änderungen der Ausgangs- oder Randbedingungen große Auswirkungen auf die möglichen Handlungsoptionen zur Erreichung eines bestimmten Zieles haben. Die Abwägung und Klärung von „Lösungswegen“ ist dann ein ebenfalls äußerst komplexer Vorgang, der von einzelnen Politikern wie von politischen Gremien immer nur durch wenigstens partielle Vereinfachungen (systemische Komplexitätsreduktionen), durch Einschätzung bekannter Verhaltensmuster der Beteiligten und unter Berücksichtigung eigenen Vorerfahrungen („Umwelt“) geleistet werden kann. Sachgerecht sind solche „Vereinfachungen“ dann, wenn eben bestimmte Verläufe temporär unter Außerachtlassung der meisten „Nebenbedingungen“ und „Nebenfolgen“ durchgespielt werden, um zu erkennen, welche Zieltendenzen sich abzeichnen, wo es Differenzen gibt und wo die größte Annäherung an das zu erreichende Ziel zu erwarten ist. Dies Verfahren wäre als multiple Konstruktion einer variablen systemimmanenten Komplexitätsreduktion zu bezeichnen, und das ist alles andere als trivial. Dies allein verdient aber die Bezeichnung „sachgerecht“. Um so etwas jeweils fundiert durchzuführen, bedarf es eines hoch effizienten und top aktuellen Beamtenapparates. Ministeriale sollten das leisten können.

Um diesen ganzen Sachverhalt angemessen zu beschreiben, halte ich die systemtheoretischen Begriffe und Denkmodelle für hilfreich und präzise, eben auch den Begriff der „Komplexitätsreduktion“. – Zwei Probleme zum Abschluss:

1) Auch Menschen in herausgehobener Verantwortung neigen leider oft genug zur Komplexitätsunterschätzung bzw. zur Problemlösung aufgrund von nicht sachgerechten Vor-Urteilen. Die Bush-Administration im Afghanistankrieg hat die Komplexität der (vermeintlichen) Problemlösung dort weit unterschätzt, ebenso wie im Irakkrieg, als mit der Eroberung Bagdads und der Vertreibung Saddams die echten Probleme erst anfingen – auf die niemand in der Administration vorbereitet gewesen zu sein scheint. Ergebnis: Verheerend, beide Male. Ein weiteres Beispiel näher bei uns: Ich vermute (aufgrund der bisherigen Unterlassungen), dass die Bundesregierung bezüglich der propagierten „Energiewende“ einer erheblichen Komplexitätsunterschätzung erliegt. In Sachen „Euro“ scheint man sich wenigstens der Komplexität bewusst zu sein…

2) Entscheidend für meine Überlegungen im vorigen Blogbeitrag war ja die Frage: Wie bringt man Kompliziertes verständlich rüber? Glanzbroschüren drucken hilft da kaum. Ich vermisse einfach weithin auch nur das Bemühen der politisch Verantwortlichen, die komplexen Sachverhalte und Entscheidungsbegründungen den Bürgern sachgerecht und differenziert zu vermitteln. Spätestens „Stuttgart 21“ hat gezeigt, dass der Hinweis auf die formale Rechtsstaatlichkeit des Vorgehens (Legitimation durch Verfahren) nicht reicht. Wenn derzeit das Verfassungsgericht wieder und wieder mehr Beteiligung und Information des Bundestages in Sachen europäischer Beschlüsse anmahnt, dann ist auch dies ein Hinweis darauf, dass die Erklärung und Vermittlung weit reichender Entscheidungen seitens der Politik bei uns völlig unzulänglich sind. Stichwort: „Bringschuld“.

Genial ist der Hinweis, von +Bruno Jennrich, der sich überlegt, „wie man z.b. mit dem smartphone komplexe zusammenhänge sichtbar und „erlebbar“ machen kann. sowie „ökolopoly“ von vester. nur eben einfach erstellbar, und zum herumspielen an den stellschrauben und dem betrachten der möglichen outcomes.“ Toll, genau so etwas wäre es. Vester war vor 20 Jahren ziemlich aktuell, ein solches „Spielmodell“ komplexer Steuerung (Kybernetik) war faszinierend. Was könnte da heute möglich sein! Warum setzt die bpb da nicht mal was Innovatives aufs Gleis? Auch die Erkenntnisse aus dem Bereich „micro learning“ könnten da vielleicht weiterhelfen, +Martin Lindner, als Fachmann für die Gestaltung von „Wissens- und Lernprozessen mit den Mitteln des Internet“ hätte da bestimmt Ideen. Möglichkeiten gäbe es heute also genug, wenns um die Vermittlung komplexer Sachverhalte geht. Man muss es nur wollen, aber, wie ich schon schrieb, man kanns lernen, man kanns machen. Nötig und gut wäre es.