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Parlamentarismus, Protest, Plebiszit

Demokratie soll dem Mehrheitswillen zum Erfolg verhelfen. Parlamentarismus bestimmt die Form des Verfahrens. Breite Repräsentation ist die Voraussetzung für breite Akzeptanz. Das gilt auch für Volksabstimmungen.

„Governance by Shitstorm“ hat Melanie Amann provozierend die erfolgreichen ACTA-Proteste im Internet genannt. Ihr FAS – Artikel ist sehr „rantig“ formuliert, einseitig und polemisch. Dennoch stellt sich mir die Frage nach dem Wechselverhältnis von Protesten, sei es bei Demonstrationen auf der Straße oder eben im Netz bei Twitter, in Blogs usw., von der Forderung nach „mehr Demokratie“ durch Volksabstimmungen und von Debatten und Entscheidungen unserer parlamentarischen Demokratie.

Proteste sind immer legitim, sobald eine Gruppe von Menschen der Ansicht ist, etwas laufe in der Politik, Wirtschaft oder Arbeitswelt nicht „richtig“, also zu ihrem Nachteil oder Unwillen. Ob diese Proteste nun auf Straßen und Plätzen, verbreitet durch Handzettel, Aufrufe, SMS, Twitter u.ä., oder überwiegend auf Internet-Plattformen statt finden, ist eher eine Frage des Mediums für die beste Wirksamkeit. Noch jedenfalls ist eine Ver.di – Straßendemonstration der Müllarbeiter mit Trillerpfeifen wirkungsvoller als ein Shitstorm. Gegen eine für falsch gehaltene Netzpolitik eignen sich dagegen eher die Mittel des Netzes. Ob beides, Trillerpfeifen (oder Niederbrüllen) und Shitstorm, immer wirklich geeignete Mittel sind, ist eine ganz andere Frage der Zweckmäßigkeit oder der Emotionalität der Beteiligten. Wirkung zeigen Proteste nur dann, wenn die öffentliche Meinung gewonnen wird und der Druck auf die Entscheidungsträger entsprechend groß geworden ist. Da liegen die konkreten Fälle bei Arbeitskämpfen, Demonstrationen bezüglich lokaler Belange und Großdemonstrationen bei nationalen oder globalen Fragen natürlich ganz unterschiedlich.

Jetzt geht es um den zweiten Aspekt, die politischen Entscheidungen. Nach klassischem  Parlamentarismuskonzept wirken zwar die Parteien bei der Willensbildung mit (Artikel 21 GG), aber nicht exklusiv. Also haben auch außerparlamentarische und nicht parteigebundene Formen des Protestes durchaus legitimen Einfluss auf die Willensbildung der Parlamentarier. Die wiederum sollen als „Vertreter des ganzen Volkes“ (Artikel 38 GG) das Wohl des Gemeinwesens insgesamt im Auge haben und bei ihren Entscheidungen nur ihrem Gewissen verpflichtet sein. Wie verantwortungsvoll und sachkundig ein einzelner Abgeordneter dann seinen Verpflichtungen nachkommt, bleibt ihm selber überlassen; es gibt keine Garantie für eine stets „sachgerechte“ Willenskundgebung und Abstimmung, aber es gibt aufgrund des Wahlmodus eine Garantie dafür, dass die Abgeordneten insgesamt möglichst genau die Mehrheitsverhältnisse der Parteienpräferenzen der Wahlbürger widerspiegeln. Ob die Parteien dann aber ihrerseits die Meinungen und Auffassungen, ja den Willen der Mehrheit der Wahlbürger widergeben, das ist eine weitere Frage. Sie führt zum dritten Aspekt.

Solange die Parteien in ihrer Programmatik und praktischen politischen Arbeit die Meinungen und den Willen wenigstens eines Teiles der Bürger (und also Wähler) vertreten und in der „Parteienlandschaft“ insgesamt der weitaus überwiegende Teil der Bürger sich wieder finden kann, gibt es kein großes Problem: Die Stimmenverhältnisse bei den Wahlen entsprechen dann (dank unseres Verhältniswahlrechts) weitgehend den Stimmungsverhältnissen in den poltischen Grundfragen seitens der Bürger. So der Idealfall, der aber in vielen Phasen der Geschichte der Bundesrepublik so in etwa funktioniert hat. Kritisch wurde und wird es, wenn Meinungen und Willen vieler, womöglich eines Großteils der Bürger, sich nicht mehr im Parteienspektrum und auch nicht bei einzelnen Politikern wieder findet. Dann kommt es zu Protesten gegen das politische Establishment, gegen „die da oben“, auch gegen formalrechtlich einwandfreie Verfahren der Entscheidungsfindung (siehe „Stuttgart 21“). Bald hört man dann die Forderung nach mehr direkter Demokratie, hört und liest „Wir sind das Volk.“ Dieser Slogan stammt aus der DDR-Bürgerrechtsbewegung und den Montagsdemonstrationen, die zum Fall des DDR-Regimes beitrugen. Da hatte der Slogan sein gutes Recht, weil es keine wirkliche Volksvertretung gab. Derselbe Slogan bei heutigen Demonstrationen und Protesten usurpiert aber für eine Minderheitsmeinung das Mehrheitsrecht. Diese Vereinnahmung ist sehr problematisch.

Zunächst vertritt ja jede Demonstration einen partikularen Willen; dem, was der Demonstrant oder Protestler für richtig hält, dem gibt er deutlich und öffentlich Ausdruck. Ziel sollte es dabei doch sein, eine Mehrheit für die geäußerte Meinung zu gewinnen. De facto wird aber oftmals der Anschein erweckt, man selber repräsentiere in dieser oder jener Frage eben „das Volk“. Dies ist ein zutiefst undemokratischer Anspruch. Eine Meinung, auch wenn es zahlenmäßig die Meinung vieler Demonstranten ist, muss noch lange nicht die Meinung und den Willen der Mehrheit repräsentieren. Wenn Trillerpfeifen und Shitstorm nur durch Lautstärke und Datenmüll eine Willensbildung im bestimmten Sinne erzwingen wollen, ist das zwar verständlich, aber keineswegs rechtmäßig oder demokratisch legitimiert. Erst eine repräsentative Abstimmung aller Bürger (einer Kommune, eines Bundeslandes, des Gesamtstaates) oder ihrer parlamentarischen Repräsentanten kann hier zu einer demokratisch legitimierten Willens- und Entscheidungsfindung führen.

Die Frage zum Schluss ist, ob das Mittel der Plebiszite dazu besser geeignet ist als das Mittel der ausschließlich parlamentarischen Demokratie. Darüber streiten die Gelehrten und die Politiker. Ich kann nicht verhehlen, dass ich das parlamentarisch-demokratische Verfahren der Willensbildung für geeigneter und besser halte, bei allen Fehlern und Skandalen, die es auch dabei gibt. Der Knackpunkt bei Volksabstimmungen ist für mich das Quorum. Wenn es wirklich eine Volksabstimmung sein soll, müsste das Quorum stets über 50 % liegen, das ist aber nirgendwo der Fall. Zwar gibt es auch bei Bundestagswahlen (bleiben wir einfachheitshalber bei diesem Beispiel) kein Quorum, was einer Mindest-Wahlbeteiligung gleich käme. Tatsächlich aber lag die Wahlbeteiligung bisher noch stets über 70 %, bei Landtagswahlen über 60 %. Man kann die sinkende Wahlbeteiligung beklagen (und sie ist wirklich eine deutliche Problemanzeige), aber sie übertrifft bei weitem die Beteiligungsquoten bei Volksbefragungen und Volksabstimmungen hierzulande. Dies ist aus meiner Sicht das stärkste Argument für den parlamentarischen, parteipolitischen Weg der Demokratie. Bisher wird auf diese Weise immer noch am deutlichsten der Wille der Mehrheit repräsentiert. Aber auch für den Mehrheitswillen gilt das Kriterium des Schutzes der Minderheit.

Zurück zum „Government by Shitstorm“. Amanns Kritik richtet sich mehr gegen die Politiker als gegen die Demonstranten. „Dem Druck der Straße“ nachzugeben ist nicht neu; einem vermeintlichen Mehrheitswillen gegenüber willfährig zu sein, ist populistisch bequem, aber noch lange nicht richtig. Vor allem ist es nie „demokratisch“.

UPDATE [26.06.]

G. Nonnenmacher in der FAZ sehr kritisch zu Volksabstimmungen: „Büchse der Pandora“