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Kleine Revolutionen

Veränderungen in der intellektuellen Arbeitsweise sind schleichend gekommen, aber unübersehbar und unverzichtbar geworden. Es hat dabei eine Vielzahl „kleiner Revolutionen“ gegeben. Ein persönlicher Rückblick.

Letztens fiel mir fast beiläufig auf, wie sehr sich meine Arbeitsweise in den vergangenen Jahrzehnten verändert hat. Das ist wohl allen intellektuellen Schreibtisch-Schaffenden meiner Generation so ergangen. Es scheinen Welten zwischen den Anfängen wissenschaftlichen Arbeitens und der heute üblichen Arbeitsweise zu liegen. Ich finde diesen Wandels bemerkenswert und zeichne den Weg einmal nach.

Während des Studiums in den sechziger Jahren waren die Bücher in den Bibliotheken bzw. den „PräBi’s“ (Präsenzbibliothek ohne Ausleihe) mit ihren jeweils aktuellen „Apparaten“ (=Literatur-Zusammenstellungen) für Seminararbeiten die Arbeitsbasis, die jeweilige Seminarbibliothek der wichtigste Arbeitsraum. Gut, wenn man dort als „HiWi“ einen reservierten Platz beanspruchen konnte. Sich Bücher selber zu kaufen, war fast immer viel zu teuer. Das änderte sich erst mit den „Raubdrucken“ (nicht lizensierte Nachdrucke mittels Xero-Kopien) der linken „Klassiker“, vor allem der Frankfurter Schule, die auf Büchertischen vor und in den Mensen reichlich und ungehindert angeboten wurden. Dadurch wurde das Angebot wissenschaftlicher Basis-Literatur in der Form preiswerter Taschenbücher beschleunigt, vor allem natürlich durch den Studenten-Boom nach den universitären Neugründungen, die so erst einen relevanten Markt hervor riefen. – Arbeitsmittel waren der Bleistift, Kugelschreiber, Schreibblock und (neueste Mode damals) Karteikarten. Man exzerpierte, notierte wichtige Gedanken aus dem Gelesenen, schrieb Zitate und Fundstellen ab. Auch die eigenen schriftlichen Arbeiten wurden zunächst noch handschriftlich erstellt; meine erste Proseminar-Arbeit in einem exegetischen Fach (Theologie)  habe ich tatsächlich handschriftlich verfasst und abgeliefert.

Dann ersetzte die Schreibmaschine („Tippa“) die handschriftliche Fassung, was allerdings immer noch hieß, dass man seine eigene Arbeit handschriftlich zumindest skizzierte, wenn nicht gar als ganzen Entwurf verfasste, um diesen dann maschinell abzuschreiben. Das konnte man gut zu Hause machen, wie sich überhaupt mit den Verbesserungen der Bibliotheks-Ausleihe, mit der wachsenden Zahl eigener Bücher und eben den selber angelegten „Zettelkästen“ der Arbeitsplatz stärker ins eigene Studierzimmer verlagerte. Der Arbeitsvorgang selber blieb aber ziemlich unverändert: Lesen, exzerpieren, diskutieren (im Seminar, mit Kommilitonen, privat), Ideen skizzieren, Gliederung entwerfen, Zitate sammeln und zuordnen, erste (hand-) schriftliche Fassung einer wissenschaftlichen Arbeit. (Man erkennt schnell: Auch plagiieren blieb mühselig…)

Das änderte sich mit dem allmählichen Aufkommen von Personal Computern. Mein erster IBM-286 in den achtziger Jahren war zwar ein technischer, zumal teurer Luxus mit damals atemberaubenden Fähigkeiten, aber das Schreibprogramm „Textomat“ ersetze doch bestenfalls die Schreibmaschine. Nur der Ausdruck der Nadeldrucker ließ mit ihren Pünktchen-Buchstaben gegenüber einer guten Schreibmaschine noch sehr zu wünschen übrig. Das Tollste an dem Computer-Schreibprogramm war dreierlei: die Möglichkeit des „Formatierens“ des Textes unmittelbar beim Schreiben (wenngleich mit eigens zu erlernenden „Steuerzeichen“), die unglaublich bequeme eigenhändige Text-Korrektur (die einfache „backspace“ – Taste im Vergleich zum „TippEx“-Verfahren an der mechanischen Schreibmaschine) und endlich das bequeme Speichern auf Floppy-Disk, von der man dann den Text beim nächsten Mal einfach laden konnte. Das war schon alles genial, aber doch noch recht verspielt, wie überhaupt die neuartige Computertechnik damals noch kräftig zum Schrauben und Löten einlud. Ein Effektivitätsgewinn machte sich erst allmählich bemerkbar. Denn beachte: Ich habe die Funktion „Copy&Paste“ noch nicht erwähnt, sie konnte ihr wahrhaft revolutionäres Potential noch nicht richtig entfalten, denn was und woher hätte man kopieren sollen? Die Funktion diente anfangs allenfalls für das eigene Umsortieren von Textteilen innerhalb des Gesamttextes – auch schon eine weiterführende Möglichkeit. Dies war in etwa der technische Stand, als ich meine Doktorarbeit schrieb: Die wissenschaftliche Arbeitsweise war immer noch dieselbe wie 10 Jahre vorher, aber der PC bot sich doch als eine neue Technik an. Meine Diss Anfang der achtziger Jahre ist allerdings noch komplett auf der Schreibmaschine entstanden. Doch sehr bald wurden Arbeitspapiere für Oberseminare und Kolloquien am PC verfasst und ausgedruckt: Der PC diente nun als „intelligente“ Schreibmaschine (und Spielzeug natürlich: Knowy, Sokoban!).

Die größte Veränderung in der tatsächlichen Arbeitsweise ist erst in den vergangenen 10 Jahren mit der rasanten Ausbreitung des Internet eingetreten. Was war „dazwischen“? Nun, es passierte eine Menge: Der Mac war da mit grafischer Oberfläche, wow, daraufhin Windows 95 mit Word und DBase (ich kenne beides noch als DOS-Programme), die nun „im Fenster“ liefen, das waren schon deutliche Verbesserungen, die aber immer noch sehr viel Puzzelei und Fisselarbeit erforderten und dadurch für den eigenen Arbeitsplatz am Schreibtisch kaum Effizienzgewinne brachten. Auch erste online „Communities“ verbreiteten sich, allerdings noch nicht über das Internet, sondern, wie die Newsgroups, zuerst im Newsnet oder im hierarchisch strukturierten Fido-Net. Als „Node“ konnte man dort erste Erfahrungen mit demjenigen Phänomen sammeln, das man Jahre später in breiter Form als social media kennen lernte.

Der Internet-Browser (erst Mosaic, dann Netscape und die „Schlacht“ um den Internet Explorer) öffnete dann tatsächlich die Tür zu neuen Welten. Email war bis dahin in meiner Erinnerung weniger wichtig, weil wer hatte schon eine Email-Adresse und konnte damit auch umgehen? Auch das „Surfen“ zu interessanten Webseiten war schon doll, aber es blieb mühselig, sich all die wichtigen Webadressen zu notieren, denn Bookmarks waren beim allfälligen Computer-Absturz verschwunden. Das, was dann aus meiner Sicht zu einer völlig veränderten intellektuellen Arbeitsweise, ja zu einer praktischen Revolution am Schreibtisch (jetzt mit unverzichtbaren PC) führte, war – Google. Diese Suchmaschine war der Hammer. Sie machte die bis dahin so wichtigen Linksammlungen und thematischen Linkverzeichnisse, auch Themenportale wie Yahoo Schritt für Schritt immer überflüssiger. Google machte das WWW überhaupt erst zugänglich und benutzbar: man konnte und lernte „googeln“. – Der zweite Name, der zu dieser Mini-Revolution gehört, lautet für mich Wikipedia: eine freie, sehr schnell wachsende Enzyklopädie des weltweiten Wissens. Das waren wirklich ungeahnte Möglichkeiten, die sich nun auftaten! Der Rest ist nun bekannt. Das Web, online Communities, Social Media wie Twitter, Facebook und Google+ sind nicht mehr wegzudenken.

Heute sieht meine Arbeitsweise so aus, dass ich ständig zwischen Büchern, Texten im Netz, eigenen Skizzen und Entwürfen am Computer, zum wachsenden Teil ebenfalls „im Netz“, hin und her wechsle. Solange wissenschaftliche Bücher und Fachliteratur noch nicht als eBooks zu haben sind (Fachaufsätze teilweise schon), wird das auch so bleiben. Ich empfinde das auch nicht als Hindernis, sondern als sinnvolle und unverzichtbarte Ergänzung. Die Arbeitsweise mit Büchern für sich genommen hat sich bei mir kaum verändert, gelernt ist halt gelernt: lesen, exzerpieren, Notizen sammeln usw. Immer öfter tritt allerdings, ich bekenne es, der Scanner hinzu, um Textschnipsel und Zitate digital verfügbar zu haben. Denn das „Produkt“ entsteht nun vollständig digital. Entscheidend kommt hinzu, dass nun die aktuelle Diskussion aus Zeitungen, Zeitschriften, Diskussionsforen und online Medien sowie Darstellungen von einschlägigen Webseiten einen wesentlichen Bestandteil des Jetztzeit- und Umwelt-Horizontes darstellen, also die tägliche „Referenz“ geworden sind, von der her und auf die hin sich die intellektuelle Arbeit bezieht und auf die sie auch immer stärker orientiert ist. Bücher alleine reichen mir für meine heutige Arbeitsweise schon längst nicht mehr, aber auf das im Buch (gerne dann auch digital) geronnene, konzentrierte und strukturierte Wissen verzichten könnte ich dennoch nicht. Das ist vielleicht eine generationsbedingte Gewohnheit, vielleicht aber auch mehr. Denn es geht doch darum, bei allen aktuellen Verknüpfungen, bei allem Fließen der Meinungen und Argumente, bei der „Verflüssigung“ des Wissens selber auch einmal inne halten zu können und ein Problem, eine Sache, eine Fragestellung sozusagen „eingefroren“ auf den gerade zufälligen Ist-Stand fest zu schreiben, darzulegen und zu beschreiben. Oft werden erst durch dieses temporäre Innehalten, durch dieses objektivierende Zurücktreten und durch eine methodisch erzwungene Sachlichkeit und Nüchternheit Konturen und Strukturen sichtbar, die im oft schrillen Getümmel der Meinungen und Äußerungen überlagert und verdeckt werden. Insofern bleibt meine, ich möchte vermuten „die“ intellektuelle Arbeitsweise weiterhin auf den eigenen Platz, das Studierzimmer und den Schreibtisch mit Büchern und Computer bezogen.

Das Schöne ist: Ich kann mich zeitweise vom Netz ausklinken, kann den Computer und das Smartphone abschalten. Ist manchmal nötig. Aber das Netz reicht bis zu mir an den Schreibtisch; die „fließende Welt“ ist unglaublich nah und direkt und intensiv geworden. Dies ist vielleicht die größte Veränderung bei aller intellektuellen Tätigkeit. Das „stille Kämmerlein“ gibt es nur noch sehr begrenzt. Vielleicht ist das gut so.